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Kultur: "Poesie in die Stadt": Zeilen schließen selbsttätig

Nicht nur Ulla Hahn und ihr Ehemann Klaus von Dohnanyi hatten Schwierigkeiten, zwischen den Ständen von Korbhändlern und Trockenfrucht-Verkäufern den richtigen Weg zu finden. Hoch über ihnen prangte das gläserne Versprechen von Urbanität in Gestalt des mächtigen Neuen Kranzler-Ecks.

Nicht nur Ulla Hahn und ihr Ehemann Klaus von Dohnanyi hatten Schwierigkeiten, zwischen den Ständen von Korbhändlern und Trockenfrucht-Verkäufern den richtigen Weg zu finden. Hoch über ihnen prangte das gläserne Versprechen von Urbanität in Gestalt des mächtigen Neuen Kranzler-Ecks. Doch dessen 13. Stockwerk wollte erstmal erreicht sein. Die Drehtüren verhielten sich bockig, die Aufzüge eigenwillig. Wie sagte ein Herr Andrich von der Deutschen Immobilienfonds AG (DIFA) später bei der Eröffnung von "Poesie in die Stadt": "Immobilien geben den Menschen Schutz, wollen aber auch sensibel behandelt werden." Jetzt war alles klar. Die DIFA beteiligt sich zum dritten Mal als Hauptsponsorin an dem Projekt, das Ursula Keller, Leiterin des Hamburger Literaturhauses, 1999 initiierte. Acht Müllmänner vor einer Litfaßsäule hatten sie dazu inspiriert. Die Männer in Orange lasen gebannt auf einem Theaterplakat Hölderlins "Wie ich unter die Deutschen kam".

Martialisch ist von einer "Lyrik-Offensive im Neuen Kranzler-Eck" die Rede, an jenem Ort, wo einst das Café des Westens Gäste wie Else Lasker-Schüler oder Karl Pinthus empfing. Nun aber, in der sensibel zu behandelnden Immobilie, bestaunten die Festgäste die Aussicht auf Gleise, die scheinbar ins Nirgendwo führten. Vom Hausherrn wurden sie auf die verschiedenen Lichtzeiten hingewiesen, die poetische Qualitäten besäßen, "fern vom rauhen Ton der Baustelle". In ihrer nach eigenen Angaben dritten Rede zur Literatur in drei Wochen Redenzeit bemerkte die Kultursenatorin Adrienne Goehler, dass sich Berlin mit einer gewissen Wehmut an seine große literarische Tradition erinnere. "Poesie in die Stadt", das von den Literaturhäusern in Berlin, München, Hamburg, Frankfurt und Köln ausgerichtet wird, hat jetzt auch noch Stuttgart hinzugewonnen. Eine durch und durch regional ausgewogene Angelegenheit also, wie auch die Hauptstadt-Senatorin betonte.

"auf dem Bahnsteig in einen Apfel zu beißen / Durchreisende unter durchreisender Sonne / Zurücktreten Zeilen / schließen selbsttätig": Das ist das Gedicht "Süß", das Ulla Hahn eigens für die Aktion schrieb. Bis Ende August wird es mit 20 weiteren Vier- bis Achtzeilern von 2000 Großplakatflächen für poetische Irritationen im Alltag sorgen. "Sommerzeit - Lyrikzeit" lautet ein erfrischend schlichtes Motto der Sponsoren. Ulrike Draesner freut sich, wenn Gedichte, die vom Betrachter nichts wollen, einmal die Rolle der Werbung einnehmen.

Klimatisch sommerlich sollten die Auftragsproduktionen anmuten. So schwärmt Jan Wagner vom "hellen artischockenherz der jahresmitte", während Dieter M. Gräf erotisierende "Holunderduschen des August" genießt.

Aus München beteiligte sich Wolf Wondratschek, aus Köln Jürgen Becker und Brigitte Oleschinski, aus Berlin Durs Grünbein, Lutz Seiler und natürlich viele andere. Als Vorleser für die Vernissage hatte man Christian Brückner gewonnen, da konnte nichts schiefgehen. Anna Thalbach trug zu Sphärenklängen das Hohe Lied vor. Die Gitarrenbegleitung von Brückners Sohn Kai erzeugte Wandertagsatmosphäre, und so möchte man gleich ausschwärmen: in die poesiegeschmückte Stadt.

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