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Politische Literatur: „Scharfsinnig und manchmal pervers“

Henry Kissinger berichtet über seine Einsichten in die chinesische Politik und Lebensphilosophie. Indessen verweist er mitunter auf die große Gefahr eines möglichen Kalten Krieges zwischen zwei Mächten der Superlative.

Im Sommer 1971 hat sich Henry Kissinger auf eine Reise begeben, die die Welt verändern sollte. Zunächst jedoch wirkte die Tour des damaligen Nationalen Sicherheitsberaters von US-Präsident Richard Nixon alles andere als aufregend. Er besuchte Saigon, Bangkok, Neu Delhi und Rawalpindi, hielt sich in jeder Stadt ohne besondere Aufgaben einige Zeit auf und fuhr dann mit seinen Beamten weiter. In Pakistan täuschte er eine Erkrankung vor, von der er sich in einer Bergstation am Fuße des Himalaya erholen müsse. Das alles hatte nur einen einzigen Sinn, „dass die Medien es schließlich aufgaben, unseren Weg zu verfolgen“. Diese Geheimhaltung war wichtig, weil ihn seine Reise schließlich in ein kommunistisches Land führte, mit dem die USA rund 20 Jahre zuvor in Korea Krieg geführt hatten, das in zwei Taiwankrisen beinahe einen Atomschlag provoziert hätte und mit dem es jahrzehntelang so gut wie keinen Kontakt mehr gab. Kissingers Ziel war Mao Tse-tungs China.

Mit seinen zwei geheimen China-Reisen und der darauffolgenden Peking- Reise Richard Nixons begann die Wiederaufnahme der politischen Beziehungen zwischen China und den USA, die als „Ping-Pong-Diplomatie“ in die Geschichte eingegangen ist. Die Entwicklung dieser strategischen Partnerschaft ist das zentrale Motiv in Kissingers Buch „China: Zwischen Tradition und Herausforderung“. Der Autor war erst als Sicherheitsberater und von 1973 bis 1977 als Außenminister für die amerikanische Außenpolitik im Kalten Krieg verantwortlich, er kann daher aus erster Hand Einblicke in die wechselvolle Entwicklung der Beziehungen beider Länder geben. Auch später nutzte der Friedensnobelpreisträger wiederholt seine Kontakte, um für die USA in Peking zu vermitteln. Diese Rolle hat ihm in China den Titel „alter Freund des chinesischen Volkes“ eingebracht.

Seine Insiderberichte sind unbestritten die stärksten Passagen. Doch das Buch geht über eigene Erinnerungen hinaus, es versucht, Chinas Entwicklung und politische Strategie geschichtlich, kulturell und philosophisch zu erklären. Und es wirft einen Blick in die Zukunft der schwierigen Beziehung beider Großmächte. „Scharfsinnig und manchmal pervers“, nennt die „New York Times“ das Buch, das im Original lapidar „On China“ heißt. Das Buch liefere eine Verteidigung der Realpolitik des Autors, in der Menschenrechte nur eine untergeordnete Rolle spielten, lautet die Kritik. Dazu gehöre seine milde Einschätzung von Mao Tse-tung, dem wohl größten Massenmörder der Geschichte: „Wenn China vereint bleibt und sich zu einer Supermacht des 21. Jahrhunderts entwickelt, wird Mao für viele Chinesen vielleicht einen ähnlich ambivalenten, aber respektierten Platz einnehmen wie Qin Shihuang, der Kaiser, den Mao selbst verehrte: ein Dynastiegründer und Autokrat, der China in ein neues Zeitalter trieb (...) Für andere wird das ungeheure Leid, das Mao über sein Volk brachte, seine Leistungen jedoch stets überschatten.“

Kissinger stellt seinem Werk Chinas konfuzianisches Erbe und den traditionellen Exzeptionalismus des chinesischen Kaiserreichs voran. Interessanterweise glaubt er in Sun Tzus mehr als 2000 Jahre altem Werk „Die Kunst des Krieges“ sowie in dem chinesischen Brettspiel Weiqi, das in Deutschland als „Go“ bekannt ist, Elemente zu entdecken, die bis heute die chinesische Politik mitbestimmen. Bei dem Brettspiel geht es darum, den Gegner zu umkreisen oder ihn mit Geduld auf Abstand zu halten. Der indisch-chinesische Krieg 1962, schreibt Kissinger, war für Mao „im Grunde eine Partie Weiqi im Himalaya“. Und auch bei der strategischen Partnerschaft mit den USA ging es Mao um die traditionelle kaiserliche Maxime „Barbaren gegen Barbaren zu nutzen“, um die Peripherie, also alle Mächte außerhalb Chinas, uneinig zu halten. „Mao hatte angenommen, dass die amerikanische Öffnung gegenüber China das Misstrauen der Sowjetunion immens verstärken und die Spannungen zwischen ihr und den USA vergrößern würde“, schreibt Kissinger. Es kam allerdings anders, die Sowjetunion begann „um die Gunst Washingtons zu buhlen“.

Eindrucksvoll beschreibt er seine Begegnungen mit Mao Tse-Tung, Tschou Enlai und Deng Xiaoping. Aus seiner Faszination für die drei chinesischen Führer und vor allem für den Großen Vorsitzenden macht er keinen Hehl. Wahrscheinlich spürt er die Sympathie unter Realpolitikern, die in ihren Gesprächen ideologische Unterschiede über Bord werfen können. Tschou En-lai beschreibt das so: „Der Steuermann muss auf den Wellen reiten oder er wird von der Flut fortgerissen.“ Und Mao Tse-tung skizziert in den Gesprächen mit Kissinger den Modus vivendi dieser Partnerschaft: „Tatsächlich könnte es sein, dass wir Sie manchmal eine Weile kritisieren wollen und manchmal Sie uns eine Weile kritisieren wollen. Das ist, wie ihr Präsident sagt, der ideologische Einfluss. Sie sagen, weg mit euch Kommunisten. Wir sagen, weg mit euch Imperialisten. Manchmal sagen wir solche Dinge. Es ginge nicht, dies nicht zu tun.“ Ideologie ist ein Mittel der Innenpolitik, das in der Außenpolitik nichts zu suchen hat.

Auch Kissingers Urteil über den Reformer Deng Xiaoping, der das Massaker in der Nähe des Tiananmen-Platz zu verantworten hat, fällt zwiegespalten aus: „Wie die meisten Amerikaner war ich schockiert, auf welche Weise der Protest auf dem Tiananmen-Platz beendet worden war, aber im Gegensatz zu den meisten Amerikanern hatte ich Gelegenheit gehabt, die herkulische Arbeit zu beobachten, die Deng in eineinhalb Jahrzehnten geleistet hatte, um das Land neu zu gestalten.“

Den Gegner mit Geduld auf Abstand halten: Ein Chinese raucht Pfeife auf einer Brücke aus Wellblech in Peking.

© dpa

Doch Kissinger bleibt nicht in der Vergangenheit stehen, sondern wagt den Ausblick darauf, wie die Beziehung der beiden wichtigsten Länder des 21. Jahrhunderts gestaltet werden könnte. Im schlechtesten Fall könnten amerikanische Neokonservative und chinesische Nationalisten „Außenpolitik als unvermeidlichen Kampf um strategische Überlegenheit verstehen“. Kissinger weiß um die globalen Folgen einer solchen Konfrontation. „Ein Kalter Krieg zwischen den zwei Ländern würde den Fortschritt auf beiden Seiten des Atlantiks für eine Generation lähmen.“ Er aber sieht einen anderen Ausweg und skizziert einen Weg zu einer Pazifischen Gemeinschaft, zu der auch Japan, Indonesien, Vietnam, Indien und Australien gehören könnten. Sie würde dem Konzept der Atlantischen Gemeinschaft nach dem Zweiten Weltkrieg ähneln. „Ein solches Konzept würde der Realität entsprechen, dass die Vereinigten Staaten eine asiatische Macht sind und dass viele asiatische Staaten diese Rolle der USA auch einfordern. Und es entspräche Chinas Wunsch, eine globale Rolle zu spielen.“ Eine Pazifische Gemeinschaft klingt zwar utopisch, für Kissinger aber ist sie eine Vision, die durch Einsicht Wirklichkeit werden könnte. Eine Vision, für die er vor 40 Jahren durch seine Reise nach China den Grundstein gelegt hätte.

Henry Kissinger: China: Zwischen Tradition und Herausforderung. C. Bertelsmann Verlag, München 2011. 606 Seiten, 26 Euro.

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