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© Davids/Darmer

Berlin Festival: Der Charme der Neunziger

Beim Berlin Festival dominieren die Retro-Acts. Besonders ein Musiker glänzt.

Jarvis Cocker ist ein Freak. Aber ein cooler und witziger Freak, und ein schlauer sowieso. Das ist schon länger bekannt, davon kann man sich aber praktisch vom ersten Moment an, da Cocker mit seiner Band die Hauptbühne des Berlin-Festivals auf dem Flughafen Tempelhof betritt, wieder ein Bild machen. Nicht nur, dass Cocker jetzt einen Vollbart hat, dazu die langen Haare und die große Brille, und er ein irgendwie nichtfarbenes Dozentensakko trägt, nein, sondern er fordert auch gleich das Publikum auf, erst schön rechts den Arm zu heben, dann schön links, um schließlich auf diese Weise mitzurocken.

Jarvis Cocker meint das natürlich nicht wirklich ernst – „Irony is over“, wie es einmal auf einem seiner Plattencover stand, das war früher und selbst die reine Ironie. Schon beim Armeheben lacht Cocker sich eins, wohl wissend, dass Stilübungen dieser Art noch nie seine Sache waren, aber eben zum Repertoire jeden Rockkonzerts gehören. Und tatsächlich rocken Cocker und seine Band dann und spielen das schöne, westernmäßig angehauchte Instrumentalstück von Jarvis Cockers jüngstem Soloalbum „Further Complications“.

Dieses Album ist nicht unbedingt jedermanns Sache, hat es doch fast gar nichts mehr gemein mit dem sentimentalen, fluffigen Disco-2000-Pop, mit dem Cocker und seine damalige Band Pulp Mitte, Ende der neunziger Jahre berühmt wurden. „Further Complications“ ist eher ein toughes Rockalbum mit einem allerdings wunderschönen Disco-Stück als Bonus-Track, das zudem von dem humorlosen Steve Albini produziert wurde. Und so ein Album will dementsprechend performt werden: mit gleich zwei Gitarristen, einem Bassisten, einem Schlagzeuger und einem nur gelegentlich zum Einsatz kommenden Keyboarder.

Trotzdem ist es ein einziger Genuss, Rocksongs hin oder her, Jarvis Cocker bei der Bühnenarbeit zu verfolgen. Mit seinen comichaften, hibbeligen Tanzeinlagen, mit denen er einst auch einen Michael Jackson bei einer Preisverleihung und in dessen Gegenwart parodiert hat, misst er die Bühne ab, deutet rockistische Zerstörerposen an und macht unentwegt seine Witzchen: über sein Alter, sein Deutsch, sein Jacket oder den Schrecken von Saxofoneinlagen (und die Saxofoneinlage folgt dann sofort!).

Und am Ende versöhnt er auch die alten Pulp-Fans mit besagtem Disco-Song, „You’re In My Eyes“, der auf einem Sample der amerikanischen Band Glass Candy basiert, und schmachtet „I don’t want to lose you again“. Dieses Schluss stück mit dem im Hintergrund flimmernden Discolicht korrespondiert sehr schön mit dem auf der kleineren Bühne beginnenden Auftritt von Whirlpool Productions. Die Kölner Band kommt immer mal wieder für Shows wie diese zusammen, um unter anderem ihren großen, einzigartigen Mittneunziger-Club-Hit „From Disco To Disco“ zu spielen. „Led Zeppelin“, ruft einem der Popautor Ralf Niemczyk da beim Vorbeigehen fröhlich zu, was natürlich ein Witz ist, aber seinen wahren Kern hat.

Denn nicht zuletzt der Whirlpool-Productions-Auftritt deutet darauf hin, dass das diesjährige Berlin Festival sehr neunziger-Jahre-lastig, dass hier viel frischer Retro-Charme mit im Spiel ist. An zwei Tagen traten vor allem Bands auf, die ehedem mal ziemlich hot waren, jetzt aber entweder nur noch ihren legendären Status verwalten, so wie zum Beispiel Saint-Etienne. Oder die richtig groß werden wollen wie die Hip-Hop-Formation Deichkind mit ihrer zumindest visuell beeindruckenden Bühnenshow oder Zoot Woman, deren Mastermind Stuart Price nach Produzentenjobs für Madonna und Seal wieder mit seiner Band ein Album aufgenommen hat.

Die neuen Stücke aber wollen noch nicht greifen. Bejubelt werden am Samstagabend vor allem die alten Zoot-Woman-Gassenhauer „It’s Automatique“ und „Living In A Magazine“. Der Auftritt von Zoot Woman vermittelt, dass diese Band mit ihrem schnieken Achtziger-Jahre-Pop sich nicht für große Bühnen und Festivals eignet, dass schnörkellose Punkbands wie die vorher auftretenden Thermals oder The Rifles da einfach die bessere Wahl sind. Fast peinvoll ist es mitanzusehen, wie Stuart Price in seinem funkelnden blauen Anzug ernsthaft versucht, das Publikum zum Mitklatschen und Ähnlichem zu animieren, was fürchterlich in die Hose geht. Dagegen ist Jarvis Cocker eine große Klasse für sich.

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