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Pop: Boot mit sieben Segeln

Klangmeere befahren: „Alles wieder offen“, das neue Album der Einstürzenden Neubauten

In der Rolle des Weltenwanderers ist Blixa Bargeld ein Virtuose. Nicht nur, dass der Sänger der Einstürzenden Neubauten schon vor ein paar Jahren nach San Francisco zog, dann weiter nach Peking und seither als globaler Großkünstler durch die Lufträume diffundiert, auch die Texte sind Bestandsaufnahmen von etwas, das sich immer schon verflüchtigt hat. Das nicht fassbar ist, nicht haftbar. „Ich bin in die fernsten Winkel abgereist“, singt Bargeld auf dem neuen Album „Alles wieder offen“ und schlägt den Wegelagerern, die ihm auf seinen poetisch-mäandernden Weltentwürfen auflauern, wieder mal ein Schnippchen.

Es ist wirklich nicht einfach, seiner habhaft zu werden. Vielleicht fühlt man sich deshalb auch bei „Alles wieder offen“ bemüßigt, das Album wie ein Orakel zu lesen. Wie ein Boot mit sieben Segeln. Wie eine literarisch-musikalische Schnitzeljagd. Jedenfalls nicht wie ein Pop-Produkt, was es zweifellos ist. Denn so eingängig, aufgeräumt und zugänglich hat die Band, die vor 27 Jahren im Hohlraum einer Schöneberger Autobahnbrücke geboren wurde, noch nie geklungen. Die ersten Takte von „Nagorny Karabach“ könnten auch von Sade stammen, so sanft und melodiös kommen sie daher. „Susej“ ist ein nicht minder angenehm pulsierendes Soundbad, ein Abgesang auf Heilsbringer, die ja doch nie erscheinen („Lass uns nach Hause gehen“). Die Instrumente werden nicht mehr wie Kontinentalplatten gegeneinander geschoben, nicht zur Reibung und Hitze des Aufpralls gedrängt. Sie umkreisen einander. Sauber.

Trotzdem ist „Alles wieder offen“ so verstörend wie jedes Werk, das die Einstürzenden Neubauten in ihrer bis heute nicht erschöpften Schaffenswut veröffentlicht haben. Immer noch derselbe überspannte Furor, dasselbe aufwühlende Insistieren, diese stoische Vergötterung des gespreizten dichterischen Tons, des stählernen Beats. „Ich hab’ mit dem Urtext selbst einmal gebadet“ ist nur einer der Sätze, die in schroffer Unverständlichkeit verharren. Er findet sich in einem Song, mit dem die Neubauten der Dada- Bewegung huldigen. „Ich kann niemanden ernst nehmen“, sagt Bargeld der „Spex“, „der nicht wie ich Dada umarmt hat.“

Bargeld hat es nie interessiert, seine Funktion als Sänger für private Empfindungsströme zu nutzen. Seine Sprache formt sich im Zitat. Und so sind auch seine neuen Texte zusammengesetzt wie ein Puzzle, aus denen das Subjekt gelöscht ist. Das gehorcht der romantischen Hybris, derzufolge Kunst auf die Wirklichkeit einen viel größeren Einfluss hat als umgekehrt. Ein Song wie „Die Wellen“ macht die Sprache denn auch selbst zum Naturereignis, das sich mit der Elementarkraft misst. Bargeld wirft sich als Wortschwimmer gegen die imaginäre Brandung einer Soundkulisse, aus der Welle auf Welle herandonnert und nicht aufgehalten werden kann. In diesen dreieinhalb Minuten läuft die Band zur Hochform auf. Das wogende Wummern, Gleiten und Stürzen entfesselt die Einbildungskraft. Und es wird zum musikalischen Vademecum für Rilkes Feststellung, „dass wir nicht sehr verlässlich zu Haus sind in der gedeuteten Welt“.

Verwirrung stiftet auch die Fülle an Veröffentlichungen, mit denen Blixa Bargeld, Geräusch-Sammler Andrew Unruh, Bassist Alexander Hacke sowie Jochen Arbeit an der Gitarre und Percussionist Rudi Moser das Neubauten-Universum spicken. Das meiste davon findet im Verborgenen statt, nämlich auf der Band-eigenen Website www.neubauten.org. Seitdem die Band nach dem Auslaufen ihres regulären Plattenvertrages ein Subskriptionsmodell eingeführt hat, lässt sie sich ihre Alben von sogenannten „Supportern“ vorfinanzieren. So ist ein verzweigtes Œuvre entstanden (aus „Jewels“, der Experimentalreihe „Musterhaus“ und exklusiven Supporter-Alben), das nur noch gelegentlich den Weg in die Plattenläden findet. „Alles wieder offen“ ragt da heraus wie eine Eisbergspitze.

Dass sie wuchtiger erscheint als die Vorgänger „Perpetuum Mobile“ (2004) oder „Silence is sexy“ (2000) verdankt sich einem nochmals erweiterten Instrumentarium. Streicher sind zu hören, sogar das Biep-Gezwitscher einer Drum- Machine. Die Selbstzitate reichen tief. Dieser Eisberg ist für jedes Schiff gut, das auf seinem Kurs beharrt.

Einstürzende Neubauten, „Alles wieder offen“ erscheint am Freitag bei Potomak (Indigo).

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