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Konzertkritik: Spex Live im Berghain: Oben ist das neue Unten

Abschied vom Alternativsein: Phoenix, Phantom/Ghost und Little Boots im Berghain beim Spex-Live-Festival.

Nach Mitternacht schlurft Phoenix-Sänger Thomas Mars verträumt über die Tanzfläche der Panorama-Bar. Beim Konzert unten im Berghain wurde er herzlich gefeiert, jetzt wird er von den Tanzenden kaum beachtet. Die Hierarchie zwischen Star und Fan ist im Berghain aufgehoben. Es ist nicht die einzige.

Seit die Industriekathedrale mit dem eisenbeschlagenen Türsteher, den tanzenden Horden halbnackter Bodybuilder und strengstem Fotoverbot zum besten Technoclub der Welt gekürt wurde, ist das Berghain endgültig aus dem Underground getreten. Beim „Spex Live“-Festival diente die ehemalige Generatorenhalle als Konzertsaal für ein bunt gemischtes Pop-Publikum.

Der Abend ist ein Lehrstück über die endgültige Auflösung eines Ordnungssystems, das auf dem Gegensatz von Underground und Mainstream aufbaute. Das Zentralorgan des deutschen Pop-Diskurses hat ein Lineup zusammengestellt, das nicht wirklich zueinanderpasst. Dirk von Lowtzow entführt mit dem elegischen Kunstelektro „Phantom/Ghost“ in die eskapistische Welt eines Jugendstil-Spiegelsalons. Die Headliner Phoenix präsentieren ihren zwischen Entäußerung und Entzug vibrierenden Garagenpop. Dazwischen steht der Frontalangriff von Victoria Hesketh alias „Little Boots“, die mit ihrem aggressiven Rave-Disco-Sound die Stilgrenze zum Großraumschuppen niederreißt. Die Aufmerksamkeit gebührt ihr schon wegen des blinkenden LED-Instruments „Tenori-On“, das sich wie ein Touchscreen steuern lässt. Leider spielt sie kaum drauf. Die von Keyboarder und Schlagzeuger begleiteten Songs sind vorprogrammiert.

Die 25-Jährige, deren Debütalbum „Hands“ am 19. Juni erscheint, ist in Großbritannien ein Hype. Ihre mit Joe Goddard von Hot Chip produzierte Single „Stuck On Repeat“ klingt wie eine eisgefrostete Neuauflage von Donna Summers Stöhnhit „I Feel Love“ und wurde sofort zum Clubhit. Hesketh hat Kulturwissenschaften studiert und ihre Abschlussarbeit über Originalität im Pop geschrieben. Sie gestaltet ihre Website selbst, stellt Homevideos auf Youtube, erhascht die Aufmerksamkeit der Mode-Blogs. Damit steht sie beispielhaft für das Modell der digitalen Do-it-Yourself-Künstlerin. Sie kennt die Gesetze. Und befolgt sie nur allzu gut.

Etwas ist unheimlich an dieser Frau, die im lila Paillettenkleid ihre Songs präsentiert wie ein Mädchen beim Karaoke und die Liebe auf „Mathematics“ reduziert: „Nothing can divide / A heart plus a heart“. Es ist die Kälte in Musik und Auftreten, die erschreckende Abwesenheit von Augenzwinkern und Zwischentönen. Hier werden endgültig die Ideale alternativer Musik zu Grabe getragen.

Was waren die noch mal? Ein Versuch: Der Indie-Künstler vermittelte glaubhaft, es sei wichtiger, Ideen loszuwerden als CDs. Er stand persönlich für seine Musik ein. Das kann auf Dauer langweilen, und gerade Hot Chip führen vor, was für erfrischende Hybride das angstfreie Spiel mit den Genres schaffen kann. Der Tabubruch ist da aber immer noch erkennbar. Victoria Hesketh dagegen gibt sich ganz der Kylie-Minogue-Nummer hin und reißt alle Brücken hinter sich ein. Vielleicht liegt darin die letztmögliche Provokation. Kolja Reichert

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