zum Hauptinhalt
Gruß von gestern. „Lonely Planet“-Gründer Tony und Maureen Wheeler.

© mauritius images

Reisen und Corona: "Lonely Planet" in der Krise

Der Verlag der Backpacker-Bibel kündigt einschneidende Umstrukturierungen an. Ein Schock für alle Reisesehnsüchtigen.

Von Andreas Busche

Der Blick ins Bücherregal eines Menschen verrät nicht nur die (vorgebliche) Belesenheit der Gastgeberin oder des Gastgebers, sondern gleich noch ihre Weltläufigkeit. Die blauen Einbände der „Lonely Planet“-Reiseführer sind längst so ikonisch wie die Cover der Suhrkamp- und Reclam-Bibliotheken. Und gibt es auf einer Party einen schöneren Eisbrecher als eine unverfängliche Frage zum Exemplar von „Ecuador und die Galapagosinseln“ oder „Mongolei“ im Bücherschrank, zwischen „Unendlicher Spaß“ (funktioniert im Smalltalk nach über 20 Jahren immer noch) und der Hubert-Fichte-Gesamtausgabe? Im Zeichen der Globalisierung verspricht der Individualtourismus – „on a shoestring“ sozusagen – den letzten Distinktionsgewinn.

Darum ist die jüngste Nachricht aus dem „Lonely Planet“-Hauptquartier in Melbourne selbst in Zeiten nicht enden wollender Hiobsbotschaften ein kleiner Schock. Auch dem Verlag der „blauen Backpacker-Bibel“ drohen in der gegenwärtigen Coronakrise Umstrukturierungen, die Büros in Australien und England werden voraussichtlich geschlossen, hieß es am Wochenende aus Verlagskreisen. Viel ist in den vergangenen Wochen darüber spekuliert worden, wie sich das Reisen in einer Zeit nach Corona verändern wird. Die Tourismusbranche ist von der Krise besonders stark betroffen. Der Nebeneffekt: Sollte Reisen wieder ein Privileg weniger werden, wird die Welt für die hart arbeitende Bevölkerung automatisch größer, die entferntesten Winkel der Erde werden schwieriger zu erreichen sein. Und jetzt verschwindet auch noch, zumindest vorübergehend, die Institution, die uns die entlegensten Flecken dieses Planeten ein Stück näher gebracht hat.

Die Gründungsgeschichte als Mythos

„Lonely Planet“ dominiert mit seinen zahllosen Reihen, darunter Wörterbücher, und einem eigenen Magazin über 30 Prozent des Weltmarktes für Reiseliteratur. Aber solange Flugzeuge am Boden bleiben und Grenzen geschlossen sind, ist dieser Markt etwa so zukunftsträchtig wie ein Revival der Dampfeisenbahn. Der beste Ratgeber, gerade aktueller denn je, stammt ohnehin vom Reiseskeptiker Ben Pastore, der schon 2015 meinte: „You can keep your adventure, just leave me the toilet paper.“ Die Gründungsgeschichte des Ehepaares Tony und Maureen Wheeler, die 1973 eine Art Tagebuch ihrer Überlandreise von England nach Australien am Küchentisch zusammenbastelten, ist mindestens so bekannt wie der „Apple“-Mythos von der Garage im Silicon Valley; er ist in jedem Band nachzulesen.

Aber der von „Lonely Planet“ geförderte Individualtourismus stellt heute eben auch die Grundlage einer globalen Ökonomie dar, siehe Airbnb. Die Krise der Reiseliteratur zeigt eine Krise des Reisens an sich, beide Märkte sind übersättigt. Die Demokratisierung des Reisens hat für einen Gewöhnungseffekt gesorgt, das verlängerte Wochenende auf den griechischen Inseln war nur drei Mausklicks und eine Kreditkartennummer entfernt. Niemand wird deswegen plötzlich zwei Wochen in der brandenburgischen Datsche als neue Weltläufigkeit feiern. Vielleicht tut es unserer Corona-Demut auch mal gut, dass wir uns für eine Weile damit begnügen müssen, beim Durchblättern abgegriffener „Lonely Planets“ sehnsuchtsvoll in Urlaubserinnerungen zu schwelgen.

Korrektur: In einer früheren Version wurde fälschlicherweise behauptet, dass die Produktion von "Lonely Planet"-Ausgaben bis auf Weiteres eingestellt wird. Richtig ist, dass darüber nachgedacht wird, die Büros in Melbourne und London zu schließen. Die Reiseführerserien werden weiter fortgesetzt, eingestellt wird nur das Magazin.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false