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Witzige Anspielungen auf den Internet-Riesen Facebook dürfen im Roman natürlich nicht fehlen...

© dpa

Roman „Satin Island“ von Tom McCarthy: In der Netzwelt ist genug heiße Luft für alle da

Lakonisch, linkisch und voller bizarrer Fantasien: Tom McCarthy gelingt mit seinem Roman „Satin Island“ ein süffisanter Kommentar zur digitalen Gegenwart.

Ein philosophisch gebildeter Anthropologe erzählt aus seiner Welt und seinem Leben. Anders als sein Vorbild Claude Lévi-Strauss reist er aber nicht in entlegene Gegenden und schreibt über „Traurige Tropen“. Er ist angestellt in einer großen Unternehmensberatung. Firmen wie Google, Amazon oder Facebook müssen ja die Spezies Mensch durchschauen, um den Kunden ködern zu können. Der Held von Tom McCarthys viertem Roman „Satin Island“ begibt sich also in die Netzwelt und schwebt dort in viel heißer Luft herum. U heißt er, das spricht man im Englischen bekanntlich aus wie „you“, ist also ein Du, ein Ihr, ein Sie, ein Man.

Physisch allerdings sitzt dieser U im Keller des Protzbaus seiner Firma, gleich neben der lärmenden Lüftungsanlage, und recycelt philosophische Konzepte von französischen Denkern. Gilles Deleuze („Die Falte“, eigentlich ein Buch über Leibniz und den Barock) oder Alain Badiou („Der Riss“) beutet er aus für Werbekampagnen, etwa für Jeans.

Im Moment herrscht große Aufregung, weil Peyman, sein Chef, einen Großkunden an Land gezogen hat. Unser Anthropologe will sich nicht genauer auslassen über das Unternehmen, obwohl es keinen einzigen Bereich unseres alltäglichen Lebens geben dürfte, den es nicht auf die eine oder andere Weise verändert habe. Koob Sassen heißt der neue Kunde: Wenn man den Vornamen rückwärts buchstabiert, wird book daraus, vielleicht ist hier von einer Art Facebook die Rede. Alle sind schrecklich stolz auf diesen Coup und keiner weiß genau, was zu tun ist. Das Ganze ist so wichtig wie vage. Hauptsache, man redet von der Zukunftsfiktion, von kulturellen Erkenntnissen, quantitativen Analysen und ökonometrischen Modellen.

Leicht geschrieben und witzig

U allerdings hat noch Wichtigeres zu tun. Denn er soll für Peyman den „Großen Bericht“ verfassen, das erste und letzte Wort zum Hier und Jetzt, das ultimative Narrativ. Und so legt er Dossiers an über Ölkatastrophen, über Fallschirme, die nicht aufgehen oder übers Buffering, die Zwischenspeicherung von Informationen im Netzstreaming. Er sucht einen roten Faden für alles. Und muss natürlich scheitern.

Der Londoner Autor Tom McCarthy, Jahrgang 1969, nicht erst seit seinem letzten Roman „K“ ein Spezialist für postmoderne Vexierstücke, hat mit „Satin Island“ einen hellsichtigen, süffisanten und ironischen Kommentar zu unserer Gegenwart verfasst. Eigentlich, sagt U an einer Stelle über sein Gewerbe, sind wir nichts anderes als jene Zeichendeuter, die einst Fische aufschnitten, um in deren Eingeweiden die Weisheit zu finden. Mit dem großen Unterschied, beeilt er sich hinzuzufügen, dass die Wahrsager damals natürlich Betrüger gewesen seien.

Das Buch ist voller bizarrer Fantasien – und oft weniger Erzählung als Reflexion. Doch es ist so leicht geschrieben, so witzig in seiner gnadenlosen Analyse, dass man glücklich in den Wortstrom springt, um dort mitzufließen. Und kaum droht man zu ermüden, holt McCarthy einen zurück in die analoge Welt. Dann erzählt U ziemlich lakonisch vom Sex mit seiner Gespielin Madison. Und linkisch vom Sterben seines Freundes Petr.

Ein Fantasiewort als Antwort auf alle Fragen?

Das Schlimmste am Sterben, sagt Petr an einer Stelle, sei, dass man den Tod niemandem erzählen könne. Sein Leben lang habe er immer alles formuliert, was er getan, gehört, gesehen habe, um es anderen erzählen zu können. Das Erzählen des Erlebten war für ihn fast wichtiger als das Erleben selbst. Aber nun? Ausgerechnet Madison entpuppt sich als zweite Botin einer Gegenwelt – der von Überwachung und Folter. Der Folter durch Überwachung. Eine unheimliche Szene.

Als U sich eines Tages vertippt und statt Staten Island Satin Island auf seinem Bildschirm steht, meint er, nun vielleicht doch die Weltformel gefunden zu haben. Liefert nicht womöglich dieses Fantasiewort die Antwort auf alle Fragen? Nicht zufällig lässt McCarthy seinen Helden ein Dossier über den Turmbau von Babel und die babylonische Sprachverwirrung anlegen. Denn wovon sollte Us Fund zeugen, wenn nicht von Wahn und Größenwahn?

Tom McCarthy: Satin Islands. Aus dem Englischen von Thomas Melle. Deutsche Verlags Anstalt, München 2016, 224 Seiten, 19,99 €.

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