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Kultur: Sammeln, stapeln, schreiben

„Zettelkästen“: eine Schau über Dichterwerkstätten.

Normalerweise lassen Schriftsteller sich nicht gerne in die Karten schauen. Ihre Texte geben sich größte Mühe, möglichst mühelos zu wirken. Steht man dann doch einmal, wie jetzt in einer Ausstellung des Deutschen Literaturarchivs, vor den geöffneten Schachteln, Stapeln und Ordnern, die das Rohmaterial von Romanen und Theorien den neugierigen Blicken preisgeben, so würde man sich auf den ersten Blick nicht in einer Werkstatt des Geistes wähnen. Die auf der Marbacher Schillerhöhe ausgestellten Sammlungen – ein Teil davon illustriert diese Seiten – stammen ausnahmslos aus den Vor- und Nachlässen von Dichtern und Denkern von Rang. Arno Schmid, Walter Kempowski, W.G. Sebald, Reinhart Koselleck, Tankred Dorst - sie alle waren leidenschaftliche, einige von ihnen sogar zwanghafte Sammler. Allein der Umfang ist beachtlich. Jean Paul, der den Begriff „Phantasiemaschine“ prägte und daher als poetischer Vater des Zettelkasten-Systems gilt, hat rund 12 000 Blätter hinterlassen. Als F. C. Delius 1972 für seine Satire „Unsere Siemens-Welt“ einen Vernetzungsplan anlegt, arrangiert er „hässliche, spröde, unbiegsame Wörter“ so lange neu, „bis einige Funken und etwas Witz schlagen“. Aus der Ablage wird Literatur.

Sammlungen sind meist Versuche der Weltordnung. Ihre Erfassungstechniken stehen bisweilen in krassem Gegensatz zum Gegenstand. Der Medientheoretiker Friedrich Kittler, der selbst eine Theorie der „Aufschreibsysteme“ formulierte, sammelte nebenbei „Mondfarben“: Zitate aus Versen von Chateaubriand, Musset, Gryphius oder Grillparzer. Die Gedichtzeilen tippte er mit der Schreibmaschine auf orangefarbene Normkarten – ein Verwaltungsakt, der angesichts der Zartheit des lyrischen Sujets fast wie eine Vergewaltigung wirkt.

Die Selbstverständlichkeit, mit der die Ausstellung Autoren diskursiver Prosa gleichrangig neben Romanciers und Lyriker stellt, folgt der Linie, die Archiv-Direktor Ulrich Raulff seit einigen Jahren erfolgreich eingeschlagen hat. Das Literaturarchiv fühlt sich nicht mehr nur für die deutsche Klassik zuständig, sondern in zunehmendem Maße auch für allgemeine Geistes- und Ideengeschichte.

Die Computerisierung bildet einen Professionalisierungsschub. Den Kauf seines ersten MacIntosh empfand F. C. Delius 1984 als „Befreiung von den steifen Karteikarten“. Die von ihm zum Verfassen eines Schnellkurses „Konservativ in 30 Tagen" der „FAZ“ entnommenen Zitate konnte er nun „beliebig oft kopieren und hin- und herschieben“. Nicht auszudenken, was Jean Paul oder Hans Blumenberg mit einem Computer angestellt hätten. Heute, in Zeiten der zentralen Massendigitalisierung, wirken die mühsam getippten Kärtchen in den Kisten mit ihrem Anspruch der individuellen Weltordnung auf fast rührende Weise hilflos – wie stumme Zeitzeugen aus einer vergangenen Epoche analogen Datensammelns. Einmal aufgeklappt, fangen sie noch immer an zu sprechen. Bodo Mrozek

Literaturmuseum der Moderne, bis 15.9. Eine Langfassung dieses Texts finden Sie unter www.tagesspiegel.de/kultur

Heike Gfrereis,

Ellen Strittmatter (Hrsg.):
Zettelkästen. Maschinen der

Phantasie. Deutsches Literaturarchiv,

Marbacher Katalog 66. 384 Seiten, 28 €. www.dla-marbach.de

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