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Der Schriftsteller Sascha Macht

© Ronny Aviram/Dumont Literaturverlag

Sascha Machts Roman "Spyderling": Im Wald verlaufen

Wahrheit oder Fälschung, böses Spiel oder lustiger Ernst? Sascha Machts Roman „Spyderling“.

Spiele erschaffen alternative Realitäten. Es gelten in ihnen andere Gesetze und sie ermöglichen den Teilnehmern Handlungen, die sie sich in der Wirklichkeit niemals erlauben würden. Was aber, wenn sich die Grenze zum Leben spurlos verwischen würde, wenn ein Spiel erfunden würde, das die Welt restlos ersetzt?

Hierin besteht die Vision der Hauptfigur in Sascha Machts Roman „Spyderling“ (Dumont, Köln 2022. 480 Seiten, 25 €.), Daytona Sepulveda.

Am nächsten an ihre Vorstellung eines totalen Spiels, gelangt jener „Spyderling“, ein genialischer Autor faschistischer Brettspiele, der jeden Sommer die größten Talente der Branche auf sein Weingut in der Republik Moldau einlädt.

Auch Daytona reist an, genau wie andere schräge Gestalten, darunter King Trakto Sherpa, Erfinder eines Spiels, in dem ein Held namens „Reichstag“ gegen die Feinde der Weimarer Republik ankämpft, ein 14-jähriger Adeliger namens Campbell Campbell oder die Holländerin Johanna van Tavantar, die sich von einem Poltergeist verfolgt fühlt.

Gigantische Insekten

Ihre Zeit auf dem Weingut verbringen sie mit Drogen, Sex und Streit. Die Nerven liegen schon deshalb schnell blank, weil ihr Gastgeber nicht auftauchen will. Ist Spyderling gar kein Mensch, sondern ein Phantom, ein Werwolf oder: Gott? Daytona versucht dem Rätsel auf die Spur zu kommen, lässt sich aber wie ihr Erfinder schnell ablenken.

Schon in seinem Debüt „Der Krieg im Garten des Königs der Toten“ erwies sich der 1986 geborene Macht als unkonventioneller Erzähler. Er erzählte darin die Geschichte eines Horrorfilm-Freaks, der sich nach dem rätselhaften Verschwinden seiner Eltern durch den Bürgerkrieg auf einer durch Atomtestes entstandenen Insel durchschlägt.

Auch in „Spyderling“ opfert Macht Abschweifungen und Referenzen bereitwillig Stringenz und Konzentration.

Sein Roman enthält seitenlange Aufzählungen der Gedanken der Hauptfigur und eine Art ethnografische Enzyklopädie von Spielweisen: „Die Israelis lassen den Fernseher laufen, während sie spielen. Die Slowaken knacken Walnüsse, während sie spielen. Die Kolumbianer lachen unentwegt, während sie spielen …“

Ein langer Exkurs entwirft verschwenderisch den Plot zu einem schrägen Science-Fiction-Politthriller. Gigantische Insekten übernehmen die Gewalt über die Erde. Die überlebenden Reste der Menschheit organisieren sich in politischen Sekten, bekämpften Ameisen und Wespen, tragen aber auch die alten Konflikte aus dem Kalten Krieg weiter aus.

Selbst das True-Crime-Genre ist vor dem Leipziger Autor nicht sicher. 2014 starben zwei niederländische Touristinnen unter unklaren Umständen im Dschungel von Panama. Macht bastelt daraus eine Backstory Daytonas.

Eco und das Wandern

Als junge Frau verirrte sie sich auf einer Wanderung durch den Regenwald. Diese Rückblicke erinnert an einen berühmten Vortrag des 2016 verstorbenen Literaturwissenschaftlers und Schriftstellers Umberto Eco. Er verglich das Lesen von Romanen mit der Wanderung durch einen Wald.

Der Leser könne den direkten Weg nehmen, also der Handlung folgen, es stehe ihm aber auch frei, den sicheren Pfad zu verlassen und sich von seiner Neugier mal hier- mal dorthin leiten lassen. Was aber, wenn der Wanderer sich vollends verirrt und keinen Auswegen aus den Geschichten findet?

Dieses Szenario liegt Machts Roman zugrunde. Ecos fröhliche Trüffelsuche endet bei ihm im Marsch durch eine öde Welt, die sich ganz ihrer Fiktionalisierung hingegeben hat. Ob etwas wahr oder erfunden ist, ob es Spyderling gibt oder nicht, wann ein Spiel anfängt oder aufhört, lässt sich nicht mehr sicher sagen.

Das eine ist so wahr wie das andere. Historie und Geschichten sind so miteinander verschlungen, dass Orientierung aussichtslos erscheint. Daytonas Traum von einem totalen Spiel kann man als Flucht nach vorn verstehen, als Versuch, die Realität neu zu erfinden, wenn die alte schon nicht zugänglich ist.

Nur manchmal ergeben sich für die Figuren noch jene seltenen Momente, in denen „es mit einem Mal eine Ordnung im Chaos zu geben scheint und Ansammlungen sich zu Mustern fügen, die gedeutet werden können“, wie es der junge Campbell Campbell ausdrückt.

Groteskes Disneyland

Die Figuren suchen diese Risse in der Zeichendecke ebenso, wie sie fürchten durch sie ins Bodenlose zu stürzen. Jedoch, auch diese Gefahr bleibt dem Programm des Romans treu und geht nicht über den Status einer Behauptung hinaus.

Am Ende wird ungeheuer viel und zugleich gar nichts geschehen sein. „Spyderling“ spielt in einer traurigen Postmoderne. Macht verortet sie ganz konkret, ihr Zentrum befindet sich in Transnistrien, einem Landstrich im Osten Moldaus. Daytona reist hin und findet einen grauen Landstrich vor.

Einem grotesken Disneyland gleichend, rosten die Reste des 20. Jahrhunderts hier vor sich hin. Transnistrien, das ist bei Macht so etwas wie die Hauptstadt Europas, eines Kontinents, dessen Bewohner die Insignien der Vergangenheit noch zu deutlich vor Augen stehen, um ihre Gegenwart erkennen und ihre Zukunft gestalten zu können.

Doch diese politische Volte ist nun, bereits kurz nach dessen Erscheinen, durch einen Einbruch realer Weltpolitik fragwürdig geworden. Unweit der Grenze Transnistriens herrscht Krieg. Das Behaupten oder Beklagen einer postmodernen Weltsicht wirkt in diesem Zusammenhang wie eine wohlfeile Gedankenspielerei. Ein Wald ist auch als Metapher nicht mehr zu gebrauchen, sobald er in Flammen steht.

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