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Eine politische Männerfreundschaft: Schneckenhaus und Kampfarena

Seit den frühen sechziger Jahren engagierte sich Günter Grass für die SPD und Willy Brandt. Der Schriftsteller wollte Einfluss, aber es ging ihm auch um Freundschaft. Jetzt erscheint der Briefwechsel der beiden Nobelpreisträger - das Dokument einer Liaison von Geist und Macht.

Es war 1961, kurz nach dem Mauerbau, als Günter Grass sich bei einem von Willy Brandt in der Berliner Senatskanzlei initiierten Schriftstellertreffen bereit erklärte, Brandts Wahlreden als Kanzlerkandidat zu redigieren und ihn bei Wahlkampfterminen zu begleiten. Viel Zeit war nicht – und Brandt verlor die Wahlen zum 4. Deutschen Bundestag.

Für Grass jedoch begann ein bis heute andauerndes Engagement für die Sozialdemokraten und eine besonders in den sechziger und frühen siebziger Jahren politisch enge Beziehung zu Willy Brandt, die zumindest seinerseits auch Züge einer Freundschaft trug. Bis zu Brandts Tod 1992 fand diese Beziehung nicht zuletzt in einer relativ steten Korrespondenz in Form von Briefen, Karten und Telegrammen ihren Ausdruck. 288 Schriftstücke hat der Herausgeber des Briefwechsels, der Literaturwissenschaftler Martin Kölbel, nun versammelt und mit ausführlichen, ergiebigen Kommentaren versehen, angereichert mit Briefen, Reden und Schriftstücken anderer Zeitgenossen aus Politik und Literatur.

Ein verdienstvolles, weit über tausend Seiten zählendes Mammutwerk also, für Kölbel zudem „Zeugnis einer auch gelingenden Liaison von Geist und Macht“. Vielmehr dokumentiert dieser Briefwechsel jedoch bundesrepublikanische Zeitgeschichte, die mal mehr, mal weniger in die Wechselfälle der Weltpolitik eingebettet, aber auch reich an Fußnoten ist. Vor allem Grass kommentiert das politische Geschehen, versucht an dessen Gestaltung teilzuhaben, Es gibt kaum ein Ereignis jener Zeit, das ausgespart wird, seien es die „Spiegel“-Affäre, die Studentenproteste oder Brandts Ostpolitik, seien es München 1972 oder Franz Josef Strauß’ politisches Wirken. Oder auch die komplizierten Beziehungen der Bundesrepublik zu Israel, der Vietnam-Krieg, die Ölkrise.

Dieses Buch bildet eine Epoche ab, die von heute aus betrachtet enorm fern anmutet – und die damals noch ganz unter dem Eindruck der NS-Vergangenheit stand: hinsichtlich der verborgenen Kontinuitäten, in der bewussten Abwehr davon und dem Vorsatz, es nie mehr nur in Ansätzen erneut dazu kommen zu lassen.

Unter dem Eindruck des Erstarkens der NPD und der Ereignisse in Vietnam , Griechenland sowie der Studentenproteste, schreibt Grass etwa am 31. Januar 1968 an Brandt, der damals Außenminister der großen Koalition war: „Hiervon ging ich aus: Gerade, weil unser Land so folgenreiche und wiederholte Erfahrungen mit totalitären Systemen gemacht hat, und gerade weil sich die SPD dieser Vergangenheit bewusst ist, haben wir nicht nur das Recht, sondern sind wir verpflichtet, am Beispiel lokaler Tendenzen zu neuem Totalitarismus grundsätzlich zu werden.“

Oder 1970, kurz vor der Warschau-Reise des Bundeskanzlers Brandt in Begleitung von Schriftstellern, Wissenschaftlern und Kirchenvertretern, Brandts berühmtem Kniefall und der Unterzeichnung des Warschauer Vertrags: „Schließlich wird in Warschau Geschichte geschrieben, zumindest ein Kapitel begonnen. Ich sehe nicht ein, warum einzig und immer die konservative Seite sich allerlei einprägsamen Pomp leistet, während wir vor lauter Sachlichkeit in Blässe aufgehen. Ich bin überzeugt, dass Dein Wunsch, in solch profilierter Begleitung in Warschau auftreten zu wollen, auch auf polnischer Seite Verständnis finden wird.“ Grass insistiert, mit dabei zu sein, er ist dann unter anderem auch mit Siegfried Lenz Mitglied von Brandts Delegation. Drei Jahre später begleitet er Brandt, als jener als erster deutscher Bundeskanzler Israel besucht („Wenn Du mich auf dieser Reise begleiten könntest, würde mich das freuen“, so die freundlich-kühle Aufforderung). Das mag ein Zeichen für die enge Beziehung von Geist und Macht sein, für den Einfluss des Geistes auf die Macht.

Der Briefwechsel dokumentiert jedoch auch gut, wie sehr der Geist zwar auf diesen Einfluss pocht, sich dessen aber nie wirklich sicher sein kann. Verhalten, manchmal distanziert, manchmal Anregungen aufnehmend, eben politisch abwägend – so reagiert die andere Seite zumeist, die Macht. Die Anzahl der Grass-Briefe überwiegt die von Brandt bei Weitem, auf drei Grass-Briefe kommt im Schnitt einer des Politikers oder seines Büros. Auch die Länge der Briefe differiert erheblich, Brandt bleibt in der Regel kurz angebunden, kühl, wortkarg. Grass gibt Ratschläge, mahnt, fordert, weiß oft genau, was zu tun ist, und ist sich keiner Niederung zu schade. So redet er zum Beispiel 1970 auch bei SPD-Erstwählerveranstaltungen und urteilt: „Die Niederlage in Nordrhein-Westfalen für die SPD ist eine verdiente. Selten ist ein Wahlkampf so unlustig, laienhaft, unpsychologisch, besserwisserisch und insgesamt faul vorbereitet worden. (...) Immerhin sollte man erwarten können, dass der SPD-Vorstand von Werner Figgen Rechenschaft fordert über seine verantwortliche Arbeit bei der Vorbereitung des Wahlkampfes.“

Von Brandt gibt es auf viele solcher An- und Einwürfe des Schriftstellers keine Reaktion. Manchmal macht er Gesprächsangebote etwa „über Fragen, die Du in Deinen Briefen vom 22. Juni und 2. Juli aufgeworfen hast“; manchmal, wie 1977 in einem Geburtstagsbrief zu Grass’ 50. (der einmal kein bloßes Glückwunschtelegramm ist, wie häufig in den Jahren zuvor), bedankt Brandt sich für dessen Engagement über all die Jahre, durchaus entschuldigend: „1972 erschien das, was wir uns vorgenommen hatten, zu so etwas wie einem Höhepunkt zu werden. Es tut mir leid, dass ich einige Ansätze nicht habe weiterentwickeln können (und dass auch wir zeitweilig nicht auf der gleichen Wellenlänge waren).“

Grass betont gelegentlich seine Frustration über schleppende politische Fortschritte, seine Erleichterung, sich ins „Schneckenhaus“ seiner Schriftstellertätigkeit zurückziehen zu können. Überhaupt ist dieses Buch primär ein Grass-Buch; wie nahe er und Brandt sich wirklich waren, lässt sich kaum herauslesen. Brandt scheint distanziert gewesen zu sein, vor allem privat, Grass aber politisch zumindest viel Gehör geschenkt zu haben. Man kann diesen Briefwechsel als einen nicht immer ganz spannenden politischen Roman lesen – verfasst vor allem von Grass, der sich häufig in tages- und parteipolitischem Kleinklein verliert und selbst dann nicht immer zu Bestform aufläuft, wenn er Brandt über seine diversen Reisen nach New York, Moskau, Israel oder Lateinamerika und die dort gemachten Erfahrungen unterrichtet.

Für das politische Engagement hat Grass die Rechnung in vielen seiner literarischen Arbeiten bezahlen müssen. Nicht zufällig nach Abschluss der „Danziger Trilogie“ 1963 gibt es in vielen folgenden Grass-Romanen Passagen, die sich in Ton und Inhalt nicht so sehr von den Briefen an Brandt unterscheiden. Dennoch sind Einsatz, moralischer Anspruch und auch der Furor von Grass beeindruckend – und heutzutage unvorstellbar: ein Schriftsteller oder eine Schriftstellerin, die an der Seite von Angela Merkel oder Peer Steinbrück wie einst Grass in den Wahlkampf zieht? Oder dazu aufgefordert wird?

Natürlich liest man diese Korrespondenz immer mit dem Wissen von heute, mit dem Wissen um die von Grass spät eingestandene SS-Mitgliedschaft. Es durchzuckt den Leser, wenn er 1969 seine Generation analysiert: „Politisch wuchsen wir auf in der Adenauer-Ära. Zwar skeptisch durch Erfahrungen, passten sich die meisten an; vernünftiges pragmatisches Verhalten wurde zur PseudoIdeologie, vom Pragmatismus erhoben.“

Oder, noch entlarvender, als er den damaligen SPD-Finanzminister und ehemaligen NSDAP-Mann Karl Schiller mehrmals auffordert, sich zu offenbaren: „Die Leute würden sagen, endlich ein Mann, der Mut hat und sich nicht wie Kiesinger drumherumdrückt, endlich ein Mann, der Konsequenzen gezogen hat und als Sozialdemokrat versucht, wieder gutzumachen, was er nach 1933 verbockt hat.“

Grass hat sehr lange gebraucht, um diesen Mut aufzubringen, 2006 in der Autobiografie „Beim Häuten der Zwiebel“. An seine Art Wiedergutmachung, sein Abtragen von Schuld, daran jedoch machte er sich schon früh mit seinem dann lebenslangen Engagement für die „Es-Pe-De“.

Willy Brandt,

Günter Grass: 

Der Briefwechsel. Hrsg. von  Martin Kölbel. Steidl Verlag,

Göttingen 2013.

1232 Seiten, 49, 80 €.

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