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Kultur: Schnee drüber

Songs aus der Vorhölle: Was der allgegenwärtige Christmas-Pop über unsere weihnachtliche Gefühlswelt sagt

Viele Leute dürften Will Freeman, den Held in Nick Hornbys Roman „About a Boy“, für einen Widerling halten. Zumindest für einen selbstsüchtigen, gefühlskalten Traumtänzer. Denn er fühlt sich zu alleinerziehenden Müttern nur deshalb hingezogen, weil sie sich selbst die Schuld an scheiternden Sexaffären geben. Und nicht ihm. Was gerechter wäre. Er hasst es, für irgendwas verantwortlich zu sein. Weihnachten passt da überhaupt nicht in sein Konzept. Da kommt früher oder später das Lied. Sein Vater komponierte es 1938. Und obwohl die Tantiemen dem Sohn erlauben, sein Dasein als nichtsnutziger Popsnob zu vertrödeln, haben sie es ruiniert, bevor es überhaupt begonnen hat – eine schöne Parabel, was Weihnachtslieder mit Menschen anstellen.

Die Weihnachtszeit ist emotional vermintes Terrain. Nichts macht diesen Umstand so deutlich wie die jährlich anschwellende Flut von Christmas-Pop, der von verschatteten Gemütslagen nichts wissen will. Wenn sowieso immer alles ganz toll-besinnlich ist im Pop, dann ist es das im Christmas-Pop erst recht. Unter dem Tannenbaum strebt die Affirmationsdynamik der Konsumkultur ihrem Höhepunkt zu. Und man fragt sich: Sind all die Weihnachtssampler womöglich Teil eines neu-heidnischen Rituals? Wird auch im CD-Player das Christkind vom Weihnachtsmann verdrängt, die Bibel von Coca-Cola abgelöst?

Eine kleine Umfrage unter Männern ergibt: Zwei von vier befragten Personen hören beim Schmücken des Weihnachtsbaums die Toten Hosen, einer James Last und einer das, was seine Frau einlegt. Meist eine CD der kapverdischen Sängerin Cesária Évora, weil sie das an die Geburt ihres ersten Kindes erinnert. Bei Frauen stellt sich der Fall schwieriger dar. Der Blitztest ergibt: Frauen singen selbst. Wobei es eine zum vierstimmigen Familienchor bringt, eine andere will es nach zahlreichen fehlgeschlagenen Versuchen, Mann und Kinder zum Mitsingen zu animieren, in diesem Jahr mit der „Weihnachtskaraoke“-DVD probieren. Eine Dritte hört Weihnachtslieder aus dem Allgäu, obwohl sie aus dem Rheinland stammt. „Irgendwann habe ich diesen ganzen Kulturstress gehasst“, sagt die Vierte. Ob ihr das vor oder nach jenem 24. Dezember einfiel, als der Vater die Familie mit zwei Koffern verließ, sagt sie nicht.

„Ihm wurde klar“, heißt es über Will Freeman, „die Art und Weise, wie man Weihnachten verbrachte, war eine Botschaft an die Welt, die zeigte, wie es um einen stand, wie tief die Grube war, die man sich selbst gegraben hatte. Und sich drei Tage lang die Birne zuzuknallen, sagte vieles über einen aus, was man lieber für sich behalten hätte.“ Auch diesmal werden all die Wills dieser Welt losziehen und sich eine Familie suchen, denn Weihnachten ist ein Familienfest. Was nicht heißen muss, von Leuten umgeben zu sein, die nur das Zimmer voller machen. Aber genau dazu wird eine Heiligabendgesellschaft, die sich nicht auf einen musikalischen Kanon einigt. Ohne Musik mutiert die Bescherung zu einem Actionfilm, dem der Ton abgedreht wurde.

So sehr sie auch im Zentrum steht, kurioserweise kommt im Christmas-Pop die mehrköpfige, geschenkpapierzerfetzende Familie nicht vor. Es dominieren Liebesgesänge von Alleinstehenden, die sich nach Geselligkeit sehnen. „May I take shelter by your side“, bittet Robin Gibb in einer Neufassung des Bee-Gees-Klassikers „Come Some Christmas Eve Or Halloween“. Für den Sänger, der auf der Isle of Man aufwuchs, bevor die Familie nach Australien auswanderte, ist die Beschäftigung mit alten Weihnachtsliedern („My Favourite Christmas Carols“) eine Rückbesinnung auf seine keltischen Wurzeln. Dudelsäcke wiehern, Synthesizer imitieren Streichorchester, und dezent puckert ein Drumbeat. Das Zittern in Gibbs Goldstimme verrät, wie ihm ums Herz ist.

Als Mutter aller Jingle-Jangle-Songs gilt der Wham!-Hit „Last Christmas“ von 1984. Jedes Jahr zur Weihnachtszeit kommt er wieder in die Charts. Warum nur fühlen sich so viele zu einem Lied hingezogen, das davon handelt, wie einem an Weihnachten das Herz gebrochen wird?

Als säkulare Alternative zu Kirchenorgel und Knabenchor hat sich eine übereuphorisierte Trash-Kultur entwickelt. Disco-Stampfer wie „Wonderland“ (Heidi Klum) und Balladen wie „Christmas In My Heart“ (Sarah Connor) sagen viel über das allgemeine Bedürfnis aus, Weihnachten zu feiern, ohne Weihnachten feiern zu müssen. Die Phalanx der Künstler, die sich neu unter die „White Christmas“-Adepten reihen, ist beeindruckend: Neben Gibb legen so illustre Gestalten wie Lionel Richie, Paul Young, Billy Idol, Eva Lind, Sido und Aimee Mann winterliche Alben und Singles vor. Das Gros der Stücke besteht aus angelsächsischen Volksliedern, die mehr oder minder originell interpretiert werden („God Rest Ye, Merry Gentlemen“, „The First Noël“, „Have Yourself A Merry Christmas“). Doch wer soll all diese Anstrengungen schätzen, da doch die musikalischen Gepflogenheiten am Heiligabend wie Bastionen gehütet werden? Oder leitet der allgemein beklagte Verlust an religiöser Verbindlichkeit eine Neuorientierung ein?

„Whatever Happened to Christmas“, fragt denn auch irritiert die Folk-Elevin Aimee Mann. Mit „One More Drifter In The Snow“ bringt die Singer/Songwriterin, die mit ihrem Soundtrack zu „Magnolia“ berühmt wurde, ein wohltuend trockenes, aber auch ernüchterndes Album heraus. Slide-Gitarre, Barpiano, Banjo und gelegentliche Streicher machen aus Traditionals wie „Christmastime“ schillernde Selbstgespräche. Hier versinken die Probleme des Alltags nicht in dem Schnee, von dem jedes zweite Lied berichtet – dem Klimawandel zum Trotz. Die Indie-Fee singt in einer Eigenkomposition davon, wie falsch sich der ganze Trubel zuweilen anfühlt. „I heard the Sidewalk-Santa say: Merry Christmas/Salvation’s coming cheap today.“ Aber sie weiß auch, dass die Anbetung Marias nur jenen anheimgestellt ist, die nicht einsam sind.

Sufjan Stevens stellt all das in den Schatten. Der 30-jährige Singer/Songwriter aus Michigan hat einen 43 Lieder umfassenden Zyklus namens „Songs For Christmas“ zusammengetragen. Seit 2001 hatte der Musikoholic und Multiinstrumentalist jedes Jahr für Freunde kleine Christmas-EPs mit Liedern aufgenommen, die sämtliche Facetten des Ereignisses ausleuchteten. Die meisten hat der feinsinnige Tüftler selbst geschrieben. Vom hymnischen „Sister Winter“, das in grandiosem Breitwand-Rock ausschwingt, über „That Was The Worst Christmas Ever“, ein todtrauriges Country-Juwel, bis zu „Did I Make You Cry On Christmas? (Well, You Deserved It)“.

Auch diese Platte wird all jene kaum eines Besseren belehren, die Weihnachten mit kratzigen Pullovern und zu vielen Knoten im Geschenkband verbinden. Doch aus Stevens’ warmherziger Aufforderung, die Lichter in den Baum zu hängen, die Oma anzurufen, wenn sie alleine lebt, und, sollte sie weinen, ihr zu versprechen, dass man vorbeikommt („Put The Lights On The Tree“), spricht ein Humanismus, den wir bitter nötig haben.

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