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Passiver Protest gegen die Leistungsgesellschaft. Semotamovás Protagonistin zieht sich zurück - in einen Schrank.

© David Kone

Neue Stimme der tschechischen Literatur: Schriftstellerin Tereza Semotamová macht aus einer Schnapsidee Ernst

Ihr Roman „Im Schrank“ ist eines der erfolgreichsten Debüts der vergangenen Jahre. Er erzählt von einer ungewöhnlichen Reaktion auf eine tiefe Existenzkrise.

Ein Versteck im Schrank: Das klingt nach Verwechslungskomödie und dem notorischen Liebhaber im Schrank. Die 1983 geborene Pragerin Tereza Semotamová machte aus einer Schnapsidee Ernst: Ihre Protagonistin Hana zieht eines Frühlingstags heimlich aus der Wohnung ihrer Schwester in einen ausrangierten Schrank im Hinterhof. Entstanden ist so „Im Schrank“, eines der erfolgreichsten tschechischen Romandebüts der vergangenen Jahre. Es geht ironisch mit der Gesellschaft außerhalb des Möbels ins Gericht, handelt aber vor allem von einer tiefen Existenzkrise.

Hana, eine gelernte Bildhauerin um die dreißig, ist gerade aus Deutschland nach Prag zurückgekehrt. Dort hat sie in einer ungenannten Stadt mit einem Mann zusammengelebt – eine schwierige Beziehung, die ausführlich rekapituliert wird. Sie endete mit dem plötzlichen Tod des Freundes. Hana nennt ihn nur „die Leiche“, was viel über den trockenen Humor der Autorin aussagt: „Unser Gehirn ist ein Retrohirn. Wir denken immer noch, dass wir es irgendwie tunen können, täuschen, austricksen. Und dann wird man einfach überrollt von der stinknormalen Emotion, der Urdroge von allem und allen, und dann ist man aufgeschmissen.“

Tereza Semotamová studierte Germanistik und Drehbuchschreiben und promovierte über das westdeutsche Hörspiel der 1950er Jahre. Sie verfasst auch selbst Hörspiele, übersetzt deutschsprachige Literatur in ihre Muttersprache und arbeitet für die deutsch-tschechische Internetplattform „jádu“. Mit ihrer Heldin verbindet sie die skeptische Weltsicht, den „Zweifel als Notwendigkeit“, wie es im Roman heißt.

Ihren Eltern gaukelt Hana am Telefon vor, einen sicheren Job bei einer Bank in Aussicht zu haben. Die heirats- und fortpflanzungswilligen Altersgenossinnen um sie herum sind ihr ein Graus, abschätzig spricht sie vom „Karnickeln“. Hana hat den Eindruck, überall zu stören. Zugleich taucht immer wieder das Thema Winterschlaf, auf – ein passiver Protest gegen die Leistungsgesellschaft: „Ich schmiege mich an die Rückwand des Schranks, eine ganz dünne Pressspanplatte. Anlehnen wäre nicht angebracht. Man kann sich nur in die Ecke quetschen, auf den Rucksack setzen und hibernieren wie eine Schildkröte im Terrarium.“

Trägt die Idee des Rückzugs von den Zumutungen des Lebens in den Schrank einen Roman von knapp 300 Seiten? Die Antwort lautet: Ja! Denn Tereza Semotamovás Beobachtungsgabe, ihre Fantasie und Belesenheit sorgen für ständige Abwechslung. Kursiv gesetzte Zitate aus der tschechischen Literatur, aus Goethes „Leiden des jungen Werthers“, aus Volksliedern und Kinderfilmklassikern wie Zdenek Milers „Wie der Maulwurf zu seiner Hose kam“ durchziehen den Text.

Der Roman entwirft einen kulturellen Echoraum

So spielt die Autorin etwa auf Karels Gotts Lied „Wo, kleiner Vogel ist dein Nest?“ an oder auf Bohumil Hrabals Novelle „Der sanfte Barbar“, die auch verfilmt wurde. Darin geht es um die Prager Bohème der 50er Jahre, in deren Tradition „Im Schrank“ in gewisser Weise steht. Das titelgebende Möbelstück wird durch dieses intertextuelle Verfahren zu einem eigentümlichen kulturellen Echoraum. Dankenswerterweise hat die versierte Übersetzerin Martina Lisa für die deutsche Ausgabe ein Glossar erstellt.

[Tereza Semotamová: Im Schrank. Roman. Verlag Voland & Quist, Dresden und Leipzig 2019. 288 Seiten, 22 €.]

Die etwas tollpatschige, dann wieder patente Einzelgängerin Hana stolpert von einer tragikomischen Situation in die nächste, von einem „dunkelblauen Morgen“ zum anderen. Sie findet jedoch Verbündete wie den vietnamesischen Betreiber eines Schnellimbisses und dessen Katze. Bei ihm kann sie zumindest frühstücken und die Toilette benutzen. Hana arbeitet als Fotomodell und scheitert kläglich als Kutscherin für Prag-Touristen, indem sie einen Unfall baut. Andererseits gönnt sie sich eine Reise nach London, wo sie ein Freudenhaus für Frauen besucht – eine hochkomische Szene, die sich vom melancholischen Grundton abhebt, vom „Gehirn als Zementfabrik“.

Der Herbst zieht herauf, und so endet der flapsig-traurige Roman mit einem unerfüllbaren Desiderat: „Wir müssen uns hier nichts vormachen, ein massiver Kleiderschrank ist nicht für eine ganzjährige Außennutzung gemacht.“ Mit Tereza Semotamová manifestiert sich eine neue, höchst eigenwillige Stimme der in dieser Hinsicht reich gesegneten tschechischen Literatur.

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