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Kultur: Schule fürs Leben

Nur mit Musik: Jan Böttchers Roman „Das Lied vom Tun und Lassen“.

Lehrer sind Wesen, die zwar nie aus dem Kosmos Schule herausgekommen sind, aber sich gleichwohl schneller und weiter von der Jugend entfernen als andere Menschen. Denn sie müssen in einem System funktionieren, das durch Autoritätsgesten, Leistungsnachweise, Sanktionsmaßnahmen eine unüberbrückbare Distanz zwischen Lehrkörper und Zögling aufzubauen verlangt. Lehrer müssen sich rasch aller Nähe zu ihrem eigenen Jungsein entledigen und sich die Kumpanei mit den ihnen anvertrauten Schülern verkneifen. In den seltenen Fällen, wo das nicht gelingt, kommt es entweder zu Katastrophen der Intimität oder zu gehörigem Autoritätsverlust.

Im Fall von Immanuel Mauss weiß man lange Zeit nicht so recht, was da für ein Näheverhältnis zu seinen Schülern entstanden ist – und ob er nun einfach ein sehr cooler oder ein bedauernswert einsamer Lehrer ist. Manuel, wie ihn seine Lieblingsschüler nennen, ist eine der drei Hauptfiguren und Erzähler in Jan Böttchers neuem Roman „Das Lied vom Tun und Lassen“. Er ist Witwer, bespricht sich bei seinen Friedhofsbesuchen immer wieder ausführlich mit seiner toten Frau, lebt abseits der Kleinstadt in einem Haus, wo er seine riesige Plattensammlung unterbringen kann und in einer Werkstatt an einer Laute bastelt. Er unterrichtet Musik und schart eine Gruppe von Jugendlichen um sich, die sich von diesem unorthodoxen Sechzigjährigen auf merkwürdige Weise angezogen fühlen. Auch sein Unterricht hat Charme: In einer halbjährigen Projektarbeit gründen seine Schüler Bands, lernen alles über die Musikindustrie, üben sich im Geben von Interviews und nehmen selbst geschriebene Lieder auf. Der Mann kommt an. Er hat das Talent, gerade die schrägen Vögel an der Schule an sich zu binden. Dass sich hier einer eine Nische inmitten eines durchkommerzialisierten Betriebs geschaffen hat und zudem noch seine eigene Lebenskrise – zum Künstler hat er es nicht geschafft – zu bewältigen sucht, merkt man schnell. Das macht ihn zu einer sehr zwiespältigen Gestalt. Die Sprache von Böttcher, die nicht ohne Pathos auskommt und das etwas altkluge Gehabe des Lehrers aufgreift, tragen ihren Teil dazu bei – man kann diesen Mann nicht recht durchschauen, höchstens ein wenig bedauern.

Das heimliche Zentrum des Romans und zugleich die große Leerstelle ist allerdings ein Unglück: Eine der Schülerinnen von Mauss hat sich vom Dach des Schulgebäudes gestürzt. Auf sie ist fast alles bezogen, was hier geschieht, die Trauer der 18-jährigen Clarissa, die vermeintlich leichtfertige Art, mit der andere Schüler auf diesen Tod reagieren. Auch der Besuch eines Schulbegutachters, aus dessen Perspektive der zweite Romanteil erzählt wird, ist die Folge dieses Freitodes.

Johannes Engler ist ein Doktorand der Musikwissenschaften, der vom Oberschulamt geschickt wird, um an dem Gymnasium nach dem Rechten zu sehen. Aus seiner Warte entstehen plötzlich neue Einblicke in das Schulsystem, aber auch der Blick auf Immanuel Mauss verschiebt sich. Man spürt, dass mehr als eine Generation zwischen beiden liegt. Ihre unterschiedliche Sozialisation wird evident. Seiner Aufgabe, der Evaluation dieser Schule, kommt Johannes jedoch immer weniger nach. Auch er schleppt viel Ballast mit sich herum und ist empfänglich für Clarissas Traurigkeit und Eigensinnigkeit. Er beginnt eine Affäre mit ihr. Der dritte Teil des Buches wird dann von Clarissa erzählt. Sie beschreibt in einem – realen oder fiktiven – Tourtagebuch die Erlebnisse ihrer Folk-Schulband, die durch Europa zieht, Konzerte gibt und Abenteuer erlebt. Das Tagebuch ist für Clarissa der Versuch, mit dem Tod der Freundin fertig zu werden.

Drei Stimmen, drei Perspektiven: Der Musiker und Schriftsteller Jan Böttcher schafft so ein vielstimmiges, melancholisches Porträt dreier Generationen. Er versucht jedem seiner Helden eine eigene Sprache zu geben – was manchmal etwas aufgesetzt klingt, aber doch in der Gesamtkomposition sehr lebendig wirkt. Durch die verschiedenen Blickwinkel ergibt sich fortwährend ein neues Bild. Oder ein neuer Klang. „Das Lied vom Tun und Lassen“ ist nicht nur wegen seiner Polyfonie ein musikalisches Buch. Es enthält auch Musik – und etliche Liedtexte, die von Jan Böttcher vertont auch auf der Homepage des Autors nachzuhören sind: www.janboettcher.com. Ein interessanter Roman über drei Menschen, die auf der Suche nach Trost sind – in der Musik, in der Liebe, in der Erinnerung.

Jan Böttcher:

Das Lied vom Tun und Lassen. Roman.

Rowohlt, Reinbek 2011. 315 S., 19,95 €.

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