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Mürber Marmor. Der von der Athener Akropolis stammende Torso des griechischen Flussgottes Ilissos ist jetzt in der Petersburger Eremitage zu sehen. Sonst aber nur im Britischen Museum in London.

© dpa

Sensationelle Skulpturen-Leihgabe: Ein Flussgott macht Skandal

Das Britische Museum hat ein Stück des Parthenon-Frieses nach Russland ausgeliehen. Griechenland ist empört – und will die antike Skulptur zurück.

Zufrieden legte Neil MacGregor, Direktor des Britischen Museums, die Fingerspitzen zusammen: „Er sieht viel besser aus als in London.“ Auf dem Sockel der Flussgott Ilissos, Teil des seit Jahrzehnten umstrittenen Londoner Parthenon-Frieses. Aber der Sockel steht nicht in London, nicht in Athen, sondern in St. Petersburg.

Einst gehörte die überlebensgroße Skulptur, nach 2500 Jahren etwas vernarbt, in die linke Ecke des Westpediments des Parthenons. Wo gehört sie heute hin? Nach Athen in das dort gebaute Museum, wo der Parthenon-Fries jährlich mit größerer Wut als Symbol des griechischen Nationalstaats erwartet wird? Oder ins Britische Museum, wo er seit 1816 aufbewahrt ist, als es das moderne Griechenland noch gar nicht gab. Schon der Name soll die Bildwerke als englischen Besitz ausweisen: „Elgin Marbles“ heißen sie nach dem britischen Diplomaten Thomas Bruce, Earl of Elgin, der sie 1801 nach London brachte und 1816 an die britische Nation verkaufte.

Dass Ilissos in Russland auftaucht, war nicht vorgesehen. London ist verblüfft, Petersburg erstaunt, die Griechen schockiert. Ein „Affront“, schimpfte Ministerpräsident Antonis Samaras. In St. Petersburg soll Ilissos den 250. Geburtstag der Eremitage feiern helfen. In Wahrheit ist er hier, um neue Impulse in die alte, hitzige Debatte über Raubkunst, Restitution und den Umgang mit Kulturerbe zu bringen.

MacGregor hat den Gott als „steinernen Botschafter für Europas Ideale“ geschickt. Außer einer Handvoll von Museumsleuten, der „Times“ und Premier David Cameron wusste niemand davon. Den Premier hatte man aus Höflichkeit informiert, zu sagen hat er nichts. MacGregor ist nur seinem autonomen Museumsrat verpflichtet, auch wenn er mit seiner Museumskunst Diplomatie betreibt.

Während der Westen Putins Russland ob seiner völkerverachtenden Politik wirtschaftlich in die Zange nimmt, soll Ilissos eine moralische Lektion erteilen. Der Flussgott, dem das Gewand in Falten wie Wasser über den Arm fließt, ist ein „Symbol der Philosophie“, an seinen Ufern diskutierte Sokrates in der Geburtsstunde von Freiheit und Demokratie über Liebe, Schönheit und Moral. „Je kälter die Politik zwischen Regierungen ist, desto wichtiger sind die Beziehungen zwischen den Museen“, mahnt McGregor. Die „Times“ hofft, „dass Russen fragen, warum man ihnen die Freiheit verweigert, die vor 25 Jahrhunderten in Athen erblühte“.

Wohlmeinende Briten schlugen zum ersten Mal 1951 die Rückgabe der Parthenon-Skulpturen vor, als Anerkennung für Griechenlands Kriegsbeitrag. Premier Attlee lehnte ab. Seither wurde die Rückgabe oft vorgeschlagen und wieder blockiert. 1981 nahm sich Griechenlands Kulturministerin Melina Mercouri der Sache an, schaltete Unesco und Europaparlament ein. Immer wieder zeigen sich auch Prominente solidarisch – zuletzt George Clooney, dessen Frau Amal, eine Londoner Staranwältin, im Auftrag der griechischen Regierung eine Klage vorbereitet.

Elgin nahm damals mit Erlaubnis der türkischen Machthaber im Osmanischen Reich etwa 30 Prozent der Tempeldekoration mit. Kauf, sagen die einen – Bestechung die anderen. Eigentlich wollte er Gipsabdrücke machen. Als er den Zustand der Skulpturen sah, entschied er sich für eine Rettungsaktion. Ob Plünderer oder Konservator, er übernahm sich finanziell und musste 1816 den Verkauf an die britische Nation einleiten. Parlamentarier prüften Elgins Rechtstitel und zahlten 35 000 Pfund. Das Gesetz über den Kauf bestimmte das Britische Museum als „Treuhänder“ des Kulturschatzes. Deshalb argumentiert das Museum bis heute, es dürfe ohne Gesetzesänderung über die Rückgabe nicht einmal reden.

Ilissos’ Flug nach Petersburg unterstreicht, dass der Parthenon als Teil „der europäischen Werte“ allen gehört

Griechenland selbst trug, bis Amal Clooney eingeschaltet wurde, das Plünderungsargument nicht mehr vor. Man hatte verstanden, was für ein Präzedenzfall durch einen Restitutionsstreit für Museen in aller Welt geschaffen würde. Besser der Appell an den Kulturverstand der Briten, die begreifen würden, dass Griechenlands Nationalsymbol unter Glas und blauem Himmel in Athen besser aufgehoben ist als im nebligen London.

Dies ist die Debatte, die MacGregor neu entfachen will. Die Griechen sollten hinhören, statt zu schimpfen. Ilissos’ Flug nach Petersburg unterstreicht, dass der Parthenon als Teil „der europäischen Werte“ allen gehört. Auf der Akropolis, vernachlässigt hoch über den Säulen, war der Fries laut MacGregor „Dekoration, Anhängsel eines großartigen, aber verfallenen Gebäudes“. Von Elgin in London auf Augenhöhe gebracht, wurden die „Elgin Marbles“ „Kunstwerke in ihrem eigenen Recht, mit einem neues Leben, neuen Bedeutungen“. Die Griechen sollten Lord Elgin dankbar sein. Wer weiß, ob der Philhellenismus Europa ergriffen hätte, wären seine „Marbles“ nicht als Sensation in London Teil unserer modernen Kulturgeschichte geworden.

Durch die Reise nach St. Petersburg sind die „Elgin Marbles“ plötzlich frei bewegliches Gut. Die Leihgabe unterstreicht die Rolle des Britischen Museums als Museum, „das der Welt die Welt zeigt“ und zu den freudigsten Leihgebern überhaupt gehört. Seit 30 Jahren gebe es keine „Stopp-Liste“ von Werken, die nie verliehen werden. 2004, im griechischen Olympiajahr, habe man sogar die Reisefähigkeit der „Marbles“ geprüft, doch sei nie ein Leihantrag aus Athen gekommen. Stattdessen betone Griechenland nur, dass die Skulpturen nie zurückgegeben würden. Das habe jedes Gespräch unmöglich gemacht. Deutlicher könnten die Winke MacGregors nicht sein. Vor dem Sockel in Petersburg beschwor er die „internationale Gelehrtenrepublik“, die über Staatsglaube und Nationalismus stehe und rühmte den Petersburger Kollegen Piotrovsky als tapferen Vorkämpfer. Auch das ein Wink. Die Griechen sollten es einmal nicht als aggressive, patriotisch-nationalistisch Restitutionskämpfer versuchen, sondern als Teil der internationalen Gelehrtenrepublik vertrauensvoll miteinander arbeitender Museen.

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