zum Hauptinhalt

Kultur: Sicherheit vor Freiheit: Mit dem Segen des Rechtsstaats

Auf legalem Weg in einen Polizeistaat. Der Titel ist provokativ - nicht nur, weil der Autor auf ein Fragezeichen verzichtet hat.

Auf legalem Weg in einen Polizeistaat. Der Titel ist provokativ - nicht nur, weil der Autor auf ein Fragezeichen verzichtet hat. In der jüngeren deutschen Geschichte steht der Begriff synonym für DDR und NS-Staat. Aber besitzt der demokratische Rechtsstaat Bundesrepublik nicht genügend Instrumente, eine solche Entwicklung zu verhindern?

Auf dem kalten Operationstisch der Rechtswissenschaft seziert der Bremer Jurist Fredrik Roggan die wichtigsten neuen Gesetze im Bereich der Inneren Sicherheit der letzten 20 Jahre. Einsatz verdeckter Ermittler, kleine und große Lauschangriffe, verdachts- und anlassunabhängige Kontrollen ("Schleierfahndung"), Videoüberwachung, Unterbindungs- und Polizeigewahrsam, Einsatzmöglichkeiten der Geheimdienste bei der Kriminalitätsbekämpfung und die Veränderungen in der Strafprozessordnung.

Sein chirurgisches Besteck sind das Grundgesetz und die Verfassung. Mit genauen Schnitten legt er Stück für Stück den Charakter dieser Gesetzesänderungen frei und stößt immer wieder auf den gleichen Befund: Bürgerliche Freiheiten werden eingeschränkt zugunsten einer "vorverlagerten Sicherheitsproduktion". Besonders fündig wird Roggan in den Gesetzesbegründungen. Dort finden sich regelmässig wiederkehrende Formulierungen, wonach "Sicherheit vor Kriminalität als Rechtfertigung für den Verlust von Freiheit herangezogen" wird.

Ein Grundrechtsverständnis, das Sicherheit vor Freiheit setzt, ist aber mit der ursprünglichen Werteentscheidung nicht mehr identisch. Diese nämlich gewährt den Bürgern und Bürgerinnen eben gerade auch bestimmte Freiheiten vor dem Staat. Etwa ein Recht auf persönliche Intimität, ein Recht auf Unschuldsvermutung, ein Recht auf freie (unkontrollierte) Bewegung, ein Recht auf einen fairen, sprich durchschaubaren Prozess. Ein Wechsel zu "Sicherheit vor Freiheit" - das bedeutet in der Tat einen verfassungspolitischen Paradigmenwechsel.

Ein Freiheitsverständnis in diesem gewandelten Sinne - auch wenn es sich mittlerweile immer weiter verbreitet - ist nicht mehr geeignet, bürgerliche Freiheiten und Rechte vor dem Staat zu schützen. Im Gegenteil, so Roggan zu Recht, Freiheit im Sinne von "Sicherheit vor Kriminalität" verlangt geradezu nach immer weitergehender Beschränkung der individuellen Freiheit im ursprünglichen Sinn". Bürgerrechtsorganisationen und kritische Juristen warnen davor schon seit langem.

Wie sie kommt auch Roggan zu dem Ergebnis, "dass der Staat einen permanenten Ausnahmezustand gesetzlich eingeführt hat, in dem schon heute jedermann als potenzielles Sicherheitsrisiko und damit als überwachungsbedürftig konstruiert wird". Insoweit also nichts Neues? Doch. Roggan stellt der Kritik erstmals eine wirklich umfassende Rechtsanalyse zur Verfügung und liefert dazu umfangreiches Material. Sicherheit vor Freiheit. Nach der Definition des Deutschen Rechts-Lexikons liegt hier die Schwelle zwischen liberalem Rechtsstaat und Polizeistaat. Letzterer, so das Lexikon, sorgt "sich umfassend um alle Angelegenheiten der Allgemeinheit, ordnet sie durch Polizeiverordnungen und lässt deren Einhaltungen durch Behörden überwachen". Doch Roggan dramatisiert nicht. Dafür, dass die Polizei "etwa die legislative und judikative Gewalt bereits überrollt hätte (...), finden sich heute keine hinreichenden Anhaltspunkte". Aber er warnt. "Das Rechtssystem der BRD ist auf dem schleichenden Weg in einen Polizeistaat. Es trägt bereits heute verschiedene polizeistaatliche Züge. Oder mit anderen Worten: Der Rechtsstaat wird abgeschafft mit dem Segen des Rechtsstaats. Eben: Ganz legal".

"Auf legalem Weg in den Polizeistaat" ist kein Buch für den normalen Bücherschrank. Dafür ist die ausführliche Auseinandersetzung mit der Rechtsmaterie zu kompliziert. Aber es ist ein wichtiges Buch für alle, die in Deutschland mit Sicherheitsproduktion zu tun haben. Für Ministerialbeamte in den Innenministerien, die Entwürfe für Sicherheitsgesetze formulieren, für Staatsanwälte und Richter, die sie ausformen und für Polizeibeamte, die sie ausführen. Für sie gehört es auf den Schreibtisch. Und es ist Pflichtlektüre für alle Politiker und Politikerinnen, die diese Gesetze letztlich zu beschließen haben. Sie sollten es nicht nur stets griffbereit haben, sondern unter das Kopfkissen legen. Denn auch daran ist zu erinnern: Der NS-Staat warf seine Schatten schon, als es die Weimarer Republik noch gab. Alle wichtigen Gesetze, auf die er seinen Polizeistaat stützen konnte, wurden schon dort erlassen. Eben ganz legal.

Otto Diederichs

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false