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Kirche der Komiker. Macher, Moderatorinnen und Künstler auf den Bänken der Scheinbar.

© Max Zerrahn

Berliner Varieté Scheinbar: Sieben Minuten berühmt

Krömer, Polak, Hirschhausen – alle haben im Scheinbar Varieté angefangen. Bei der Kultbühne stand es Spitz auf Knopf. Doch nun kann das 35. Jubeljahr kommen.

Ein Lied zwo, drei vier. Der Text geht so: „Habt ihr euch heut gedacht, der eine Spruch war gut / Und dafür alles andere mir verziehen / noch Unfertiges, Eitles, manchen alten Hut/ zu Billiges und allzu großen Wagemut / dann war’s wie in der Scheinbar in Berlin.“

Keiner hat die Scheinbar in Schöneberg, diese berlinweit, ach was sag’ ich, deutschlandweit einzigartige Kleinkunstbühne so stimmig charakterisiert wie Sebastian Krämer. Der Klavierkabarettist und Liederschreiber ist einer von unzähligen Künstlern, die ihre anfangs noch unterentwickelten Entertainmentqualitäten in der Minibühne in der Monumentenstraße ausgebaut oder dort überhaupt erstmals vor zahlendem Publikum gestanden haben. Die Scheinbar stiftet Karrieren. Beispielsweise die von Kurt Krömer, Eckart von Hirschhausen, Oliver Polak, Bodo Wartke und Mario Barth. Da war es ein mächtiger Schreck, als vor ein paar Monaten ein Spendenaufruf auf der Homepage der Scheinbar auftauchte.

Die Scheinbar in Not? Und das im 35. Jahr ihres im November 1984 von den Artisten Stefan Linne und Irmtraud Spiegel gegründeten Bestehens? Das hat Humoristen wie Timo Wopp, Fil, Bodo Wartke, Michael „Die Echse“ Hatzius und jüngst Kurt Krömer aufgeschreckt und zu Benefizshows animiert. Denn ein Leben ohne Scheinbar wäre ja ein Leben ohne Pralinenschachteln. Möglich, aber unerträglich. Überall sonst weiß man in der ausdifferenzierten Kulturszene immer viel zu genau, was man fürs Geld kriegt. Nur in der Minibühne in der Monumentenstraße werden mittwochs bis samstags beim Open-Stage-Varieté die Karten immer gemischt. Jede und jeder kann einfach vorbeikommen und auftreten. Profis, die Neues ausprobieren. Anfänger, die noch keiner kennt. Amateure, die nie einer kennenlernen wird. Jeder hat sieben Minuten Zeit. Minuten, die für das Publikum mal Himmel, mal Hölle oder irgendwas dazwischen sind. Als Gage gibt’s ein Getränk.

Mitmachwillig sein, Sinn für Unsinn haben - das gehört sich hier

In dieser Woche ist Komikerin Cloozy Haber als Moderatorin oder besser gesagt als Dompteuse des bunten Abends dran, der passenderweise stets mit der Titelmelodie von „Mission Impossible“ beginnt. Herzlich sagt Cloozy Jongleure, Comedians, Sängerinnen und Zauberer an. Mittwoch scheint „Mentalisten“-Abend zu sein. Einer lässt das Publikum Pin-Nummern raten, dann folgt ein Duo mit Tiernamen. Die 54 Plätze sind gut gefüllt, die Leute gackern und klatschen. Mitmachwillig sein, Sinn für Unsinn haben, den Zauber des Imperfekten, des Unfertigen schätzen – das gehört sich in der Scheinbar. Einen Wettbewerb per Applausometer gibt es nicht. Für Buhrufe ist die Stimmung zu familiär, mag die Nummer auch noch so wunderlich sein. So wird aus einer Probebühne alsbald eine Heimat.

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Kein Wunder, dass Comedian Oliver Polak sagt, dass der Laden sein Schutzraum, seine Kirche ist. „Ein Ort wie ein Känguruhbeutel, wo du dich aufgehoben fühlst, wo du sicher bist.“ Seit 2006 ist er hier hunderte Male aufgetreten. Und bis zur Premiere seines neuen Programms „Der Endgegner“ im März, will er häufiger vorbeischauen. Wenn die Gags in der Scheinbar flutschen, zünden sie überall.

Und wenn nicht, dann besser weg damit, wie Bodo Wartke erzählt, der – genau wie der eigene Fernsehshows und Radiosendungen moderierende Polak – anderswo längst große Säle füllt. Am weißen Klavier, das seit Jahr und Tag auf der vier Meter breiten Bühne steht, hat Wartke mal ein pantomimisches Stück ausprobiert, in der er das verstimmte Ding mit Stethoskop und EKG-Elektroden verarztete. Was für ein Debakel! In allen Gesichtern nur Fragezeichen. „Da begriff ich, dass Sprache ein Stilmittel ist, auf das ich in meinen Darbietungen besser nicht verzichten sollte.“

Ich liebe diese verstörten Gesichter

Samstagabend haben die Magier sich verkrümelt. Nur ein verschrobenes Komikerpaar zerreißt tanzend Zeitungen und zaubert sie wieder zusammen. Cloozy dankt artig dafür, dass in den letzten Wochen so viele Leute für den Fortbestand der Scheinbar gespendet haben. „Es geht weiter, yeah!“ Jongleur Hektor, der auch Mittwoch da war, ist deutlich virtuoser geworden und erntet Bravo-Rufe. Und ein nervöser junger Typ namens Ali, der zum ersten Mal hier auftritt, schmeißt sich gestikulierend auf den Bühnenboden und erzählt, wie er auf der Suche nach neuen Herausforderungen beim Hochhaus-Rennen in Gropiusstadt mitgemacht hat. Witz, Timing oder gar Pointe hat seine Geschichte nicht, aber eine Botschaft. „Traut euch was Neues zu wagen!“ Als dann bei der Parade schräger Vögel auch noch eine Frau im Mäuse-Kostüm auftritt, die schlimm schief singt, lässt die zu professioneller Höchstform auflaufende Cloozy das Saallicht anwerfen und ulkt. „Ich liebe diese verstörten Gesichter!“

Sebastian Krämer hat scheint’s einen Abend wie diesen im Sinn, wenn er singt: „Da weht stets ein Hauch Las Vegas, ein Hauch Schlingensief / durch dieses recht unscheinbare Haus.“

Las Vegas auf Berlinisch steigt dann eine halbe Stunde später. Da stimmt Entertainment-Oldie Beppo Pohlmann, einstmals Mitglied der „Gebrüder Blattschuss“, zur Gitarre den Gassenhauer „Kreuzberger Nächte sind lang“ an. Prompt ist das Kinder, Eltern und Großeltern im Sauflieder singen vereinende Fest der künstlerischen Freiheit perfekt.

Mehr sein als scheinen. Die Scheinbar von außen am hellerlichten Tag.
Mehr sein als scheinen. Die Scheinbar von außen am hellerlichten Tag.

© Max Zerrahn

Ein anfangs fröhlich abschmierender und dann wie von Zauberhand geretteter Abend wie dieser ist ganz im Sinne von Daniela Schäfer und Werner Krejny, die den Laden mit einer Handvoll Leuten betreiben. Der kleine Eintritt reicht für Moderatoren- und Technikerhonorare und fünf „geringfügig Beschäftigte“, die sich die Abenddienste von Mittwoch bis Sonntag, wenn Solos und Specials laufen, teilen. Die Scheinbar ist Herzenssache. Wer fragt da schon nach großem Geld. Daniela Schäfer, die fürs Künstlerische zuständig ist, hat 1987 hier angefangen und vermittelt nebenbei Künstler. Der frisch berentete Werner Krejny, der das Geschäftliche betreut, hat im Hauptberuf als Arbeitspsychologe Bankangestellte nach Überfällen therapiert. Er habe früh entschieden, zehn Prozent seines Einkommens für Kunst auszugeben, sagt er. Da erwies sich die Scheinbar, die er 1994 als Stimmtrainer für Komiker kennenlernte, als eine dankbare Abnehmerin.

Drei Minuten, länger dauert die Hausführung nicht

Die Hausführung, die er vor der Show gibt, dauert drei Minuten. Auf 70 Quadratmetern drängeln sich Bühne, Bartresen, Toiletten und Garderobe. An manchen Abenden buhlen vor dem Schminkspiegel zwölf Künstler und ein Moderator um die drei Stühle, auf denen zuvor Max Raabe, Rainald Grebe, Meret Becker und all die anderen saßen.

Und was hat nun die existenzielle Finanzkrise ausgelöst? Die dramatische Besucherflaute im Sommer und eine dringend nötige Heizungsreparatur, erzählen Schäfer und Krejny. Also haben sie zum ersten Mal seit ewigen Zeiten wieder Werbeflyer gedruckt und Künstler und Publikum um Unterstützung gebeten. „Das war vorher nie nötig, irgendwie lief es immer“, sagt Daniela Schäfer. Und die Schlagzeile „Klimawandel tötet Kleinkunstbühne“ will nun wirklich keiner lesen. Für’s erste muss es auch niemand. „Wir sind überrascht, dass so viele gespendet haben“, freut sich Kassenwart Krejny. Und wenn Kurt Krömer stolze 53 Euro pro Nase für seinen Benefizauftritt verlangt, kommt auch was zusammen.

Die Bretter, die die Welt bedeuten. Die Minibühne der Scheinbar.
Die Bretter, die die Welt bedeuten. Die Minibühne der Scheinbar.

© Max Zerrahn

Selber zur Umsatzsteigerung etwas am Konzept der freien Bühne zu ändern, etwa am kostenlosen Eintritt für die Freunde der Künstler oder gar am Ticketpreis zu drehen, fällt dem Team nicht ein. Auch wenn es Spitz auf Knopf gestanden hat und keiner weiß, wie der nächste Sommer wird. Dann wäre die Scheinbar ja nicht mehr die Scheinbar. Hier ist jeder Abend ein sich selbst regulierendes System. Werner Krejny lächelt: „Nur den Typen, der mit einer stinkenden und heulenden Kettensäge jongliert hat, den haben wir lieber nach Hause geschickt.“ Sonst dürfen auch die wieder kommen, die nach 20 Jahren immer noch am Beginn der Weltkarriere stehen.

Sebastian Krämer hat, zum Wesen der Scheinbar befragt, diesen wahren Satz formuliert. „Hier ist die Kunst noch näher an der Idee als am Werk.“

Und jetzt alle:

„Wenn wieder einer alle Herzen bricht / mit Kartentricks und Posen wie James Dean. / Merkt, wenn euch wer mit Pingpong-Bällen im Gesicht / Höhepunkte aus seinem Programm verspricht / Dann seid ihr in der Scheinbar in Berlin.“

Scheinbar Varieté, Monumentenstr. 9, Schöneberg, Programminfos unter: www.scheinbar.de. Die Silvestershow ist ausverkauft, ab 2. Januar herrscht wieder Normalprogramm.

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