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Roger Willemsen

© picture alliance / dpa

Das letzte Buch von Roger Willemsen: So gingen wir dahin

Nachruf auf die Epoche des Menschen: Das schmale Buch „Wer wir waren“ ist Roger Willemsens Vermächtnis.

Von Gregor Dotzauer

Als wäre alles Entscheidende nicht längst festgehalten. Der Abgrund zwischen dem Mängelwesen Mensch und dessen Streben nach technischer Perfektion bei Günther Anders. Die fatale Dialektik der Aufklärung bei Adorno. Die Scheinhaftigkeit der Wirklichkeit bei Baudrillard. Die schwindelerregende Beschleunigung bei Virilio. Oder bereits bei Platon die Idee eines gutes Lebens, an die sich Tugendhafte nur erinnern müssten, um ihr zum Durchbruch zu verhelfen.

Und jetzt verquicken sich bei dem im Februar verstorbenen Roger Willemsen seine Lese- und Erkenntnisfrüchte halb erschrocken, halb verwundert, zu einem Nachruf auf eine zu Tode modernisierte Welt, die ihre natürliche Ordnung bis zur Selbstzerstörung abschafft – und zu einem Weckruf an die Spezies, die dabei auch ihr Bild von sich selbst von Grund auf verändert.

Ein schmales Buch, eine „Zukunftsrede“, posthum. „Der Globus hat Homo sapiens“, schreibt Willemsen. Es ist der einzige abgegriffene Witz, den er sich in seiner nachgelassenen „Zukunftsrede“ gönnt. Sonst lebt dieser Text bei aller Leichtigkeit, Eleganz und Durchsetztheit mit Wörtern dieser Jahre von einem wohltuend unfeuilletonistischen Ernst, mit dem er einer anthropologischen Wende nachspürt: „Bewusstzuwerden heiße, in der Gegenwart anzukommen, die einmal die unsere gewesen sein wird.“

„Wer wir waren“ gehört zum schwierigen Genre der Kulturkritik. Zu einer Gattung, die im Namen eines verlorenen Eigentlichen spricht. Doch selbst wenn man wie Roger Willemsen den Kampf darum für vergebens hält, lässt sich der Moment des Verlusts beschreiben. Und zwar mithilfe jenes Fernrohrs namens Futur zwei, das eher eine grammatische Option als eine wirkliche Perspektive ist – außer natürlich im Wissen, dass man eines Tages tatsächlich am anderen Ende der Dinge angekommen sein wird.

Er wollte die Schnelligkeit seiner Gedanken überholen

Als Autor, Filmemacher und Moderator war der 1955 in Bonn geborene Reisekünstler so unermüdlich wie unstet. Er war jemand, der die Schnelligkeit seiner Gedanken mit seinem Gestus überholen wollte. Das zeigte sich schon in der Art, wie er sprach. In seinen oft skizzenhaften Büchern, „Momentum“, „Die Enden der Welt“, sucht er auch nach Geschwindigkeiten, die der Gegenwart entgegenstehen. Reisen ist Beschleunigung und Entschleunigung zugleich.

In der Art und Weise, mit der Willemsen in „Wer wir waren“ das jetzige Zeitalter betrachtet, ist seine naturwissenschaftlich gestützte Kulturkritik jedenfalls immer wieder überraschend: „So stehen wir da, resistent gegen das Unheil, das kommende Generationen in den Details dieser Details entziffern werden – ähnlich, wie man heute über die Raucher in den Büros der Sechziger-Jahre-Krimis staunt oder über die fadenscheinigen Fangzäune bei Autorennen oder über die Sommerfrischler, die sich eine Sonnenbrille aufsetzen, um den Test der Wasserstoffbombe aus Liegestühlen zu betrachten.“

Sie ist überdies legitim, weil sich Willemsen gar nicht erst einbildet, dass seine Sicht nicht auch veralten würde, überholt von neuen Interpretationen, trotz unleugbarer Fakten. Genau darin liegt für ihn das Drama. Denn es „finden viele Prozesse des Gemeinschaftslebens zirkulär statt, widersprüchlich, launisch, modisch, impulsiv, und eben das bindet unsere Aufmerksamkeit, während sich die Entwicklung der Lebensräume, des Klimas, der ökologischen Bedingungen stetig und linear beschreiben lässt und uns auch deshalb langweilt.“

Die Ironie als Schutzschild

Willemsen fragt unentwegt, wie wir uns, überschüttet mit Informationen über unsere bedrohliche Zukunft, doch wieder beruhigen und die Hände in den Schoß legen können: „Woher nehmen wir all unser Nichtwissen?“ Oder in den Worten des von ihm zitierten T. S. Eliot, des Dichters von „The Waste Land“: „Where is the wisdom we lost in knowledge?"“ Die beunruhigende Antwort lautet: „Aus der Ignoranz weniger als aus der Ironie, sie bildet eine Immunschicht des Uneigentlichen, gleichermaßen vor dem Ernst der Verhältnisse wie vor der Moral der Konsequenz.“

Nichts von dem, was sich als totale Selbstvermessung, Autodokumentation und Selbstoptimierung abzeichnet, ereignet sich indes ohne Zustimmung: „Wir wurden ja nicht allein von außen durchsichtig, wir machten uns ja auch selbst transparent.“ Je mehr wir uns dabei zu durchschauen meinen, desto knapper erscheint Willemsen die Ressource Zukunft. Sie schließt sich vor unseren Augen in dem Maß, in dem wir sie berechenbar machen wollen: „So gingen wir, nicht aufgehalten von uns selbst.“

Es ist gut möglich, dass aus diesem kleinen Text auch ohne Roger Willemsens tödliche Krebserkrankung nie das große Buch geworden wäre, das er sich vorgenommen hatte. Dazu hätte es eine tragfähige Theorie gebraucht statt dieses Wetterleuchtens metaphorischer Geistesblitze, ein gültiges Maß für die Wesenseinheit des Menschen statt die Verdichtung unterschiedlichster Gedanken.

Ein Essay kann auf all das guten Gewissens verzichten. Insofern ist dieses Vermächtnis mehr als eine Skizze. „Wer wir waren“ taucht die uns umgebenden Verhältnisse in ein ungemütliches Licht. Wie erstaunlich, dass man sich dennoch daran wärmen kann.

Roger Willemsen: Wer wir waren. Zukunftsrede. S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2016. 64 Seiten, 12 €.

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