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Kultur: Spaziergang im Wahnsinn

Massimo Carlotto über seine Jahre im Exil

In Italien ist Massimo Carlotto ein Star. Er hat knapp zwanzig Kriminalromane verfasst und wird in einem Atemzug mit den großen Autoren des „mediterranean noir“ genannt: Andrea Camilleri, Jean-Claude Izzo, Manuel Vázquez Montalbán. Den Hinweis auf seine Vergangenheit allerdings vergisst kein Rezensent: Carlotto ist die Hauptfigur in Italiens größtem Justizskandal. Es beginnt 1976 in Padua, mit dem Mord an einer Studentin. Carlotto, damals 19, entdeckt ihre Leiche. Er bekommt eine Mordanklage, ein Schwurgericht spricht ihn frei, aus Mangel an Beweisen, doch Carlotto ist Mitglied der linksradikalen Lotta Continua. Der Staat will ein Exempel statuieren: In zweiter Instanz wird Carlotto zu 18 Jahren Gefängnis verurteilt. Er setzt sich ab – und an dieser Stelle beginnt „Der Flüchtling“, Carlottos autobiografisches Debüt, das nach 15 Jahren jetzt auch auf Deutsch erscheint.

Kurz vor Strafantritt taucht Carlotto 1982 in Frankreich unter und legt sich verschiedene Identitäten zu. In Paris spioniert er Nachbarn aus, protokolliert die Schichten der Straßenreinigung, prägt sich Autokennzeichen ein: „Mit der Zeit wird dir klar, je paranoider du bist, desto sicherer lebst du.“ Hemdsärmelig kommentiert Carlotto den Alltag im Untergrund, doch der lockere Tonfall ist nur Maskerade. Den „Zufallsflüchtling“ holt in Frankreich und später in Mexiko immer wieder die Angst ein. Panik überfällt Carlotto auf offener Straße, nachts kämpft er in seinen kahlen Wohnungen gegen Einsamkeit und Verzweiflung, indem er vor einem fiktiven Gericht Plädoyers für seine Unschuld hält: Das Exil ist ein langsamer „Spaziergang in den Wahnsinn“.

1985 verrät ihn ein schmieriger Anwalt in Mexiko City an die Polizei. Nach zehn Tagen lässt er sich nach Italien ausweisen, um den Gespenstern seiner Vergangenheit nicht weiter auszuweichen: „Der Prozess war mein eigentliches Leben“, schreibt Carlotto, ein Satz wie von Franz Kafka. Und wie Josef K. in „Der Prozess“ kämpft Massimo Carlotto weiter erfolglos für seine Unschuld. Einen Freispruch wird es nie geben. Es vergehen acht weitere Jahre, bis er auf Druck der Öffentlichkeit begnadigt wird. Gnade wofür? Es liegt eine bittere Hoffnungslosigkeit über den Figuren in Carlottos Krimis. Man muss „Der Flüchtling“ lesen, um das zu verstehen. Kolja Mensing

Massimo Carlotto: Der Flüchtling.

Roman. Aus dem

Italienischen von

Hinrich SchmidtHenkel. Tropen Verlag, Stuttgart 2010.

184 Seiten, 18,95 €.

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