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Kultur: Stadt im Fluss

In Berlins Neuer Nationalgalerie öffnet Rem Koolhaas seine Zukunftswerkstatt für urbane Architektur

Wenn Pünktlichkeit die Höflichkeit der Könige ist, dann waren gestern Vormittag in der Neuen Nationalgalerie nur Bettelleute zugegen. Die Pressekonferenz zur Ausstellung des Architekten Rem Koolhaas begann mit glatt zwanzig Minuten Verspätung, weil Kuratorin Kayoko Ota noch in der großen Halle beschäftigt war. Es sollte augenscheinlich demonstriert werden, was die Ausstellung selbst bis zum Überdruss demonstriert: Es handelt sich bei der Arbeit von Koolhaas und seinem Rotterdamer Büro OMA („Office for Metropolitan Architecture“) um ein work in progress, eine niemals endende, niemals anders als in einer zwischenzeitlichen Momentaufnahme vorzeigbare „Recherche“, ein permanentes Weiterdenken der Grundfragen des Bauens in der heutigen Zeit.

„Unsere Gesellschaft ist so unglaublich beschleunigt, dass Architektur zu langsam ist, um folgen zu können“, führte dann Koolhaas selbst aus. Deshalb hat sich der 1944 geborene Niederländer von Anfang an auf die Analyse dieser Gesellschaft verlegt. Seit er 1995 Professor in Harvard wurde, kann er im Rahmen seines „Harvard Project on the City“ Feldforschung betreiben, die ihn mal ins chinesische Perlfluss-Delta mit seinen sprunghaft wachsenden Mega-Städten verschlagen hat, dann ins nigerianische Lagos. Vor der eigenen Haustür entdeckte er „Hollocore ©“, „die amorphe europäische Super-Region, die Brüssel, Amsterdam und das Ruhrgebiet umschließt“ und neun Prozent aller Europäer auf nur ein Prozent der Fläche Europas vereint. Allerdings überwiegend in Mittelstädten, die kein Mensch kennt.

Das interessiert ihn: das maßlose Wachstum der Drittwelt-Megastädte, die Probleme von Migration, Drogenhandel oder Luftverkehr, und natürlich das Shoppen. Gleich am Eingang der – reichlich verfremdeten – Tempelhalle des Mies van der Rohe-Baus ist eine Gerüstplattform zum Überblick über das heillose Gewusel der Ausstellung „Content – Bauten, Projekte und Konzepte seit 1996“ errichtet. Unter deren schützendem Dach werden T-Shirts und Bücher des niederländischen Propheten der beschleunigten Gegenwart verkauft, darunter sein „Harvard Guide to Shopping“.

Nicht verkauft wird derzeit noch ein Katalog zur Ausstellung. Das Team von Koolhaas ist damit nicht fertig geworden; ein entsprechendes Kompendium wird in vierzehn Tagen erwartet. Dass es beim Kölner Druckweltmeister Taschen erscheint, gehört zur Strategie, ein breites Publikum anzusprechen. Für die Berliner Eröffnung behilft sich Koolhaas mit dem Hochglanzmagazin „Architectural Digest“ (Untertitel: „Die schönsten Häuser der Welt“), dessen aktueller Ausgabe ein neuer Umschlag aufgeklebt wurde. Das originale „AD“ erscheint im Verlag Condé Nast, dem Koolhaas Magazin-Ideen vorgeschlagen hat: „Wir müssen der Architektur neue Arbeitsfelder erschließen.“

Der eigentliche Anlass der Ausstellung, die von Berlin aus in Koolhaas’ Epizentrum Rotterdam und von dort in alle Welt wandern soll, ist die Fertigstellung des von ihm entworfenen Neubaus der Niederländischen Botschaft an der Klosterstraße mit Blick auf die Spree. Zwar verschiebt sich deren feierliche Eröffnung durch die Königin auf den März, sie ist aber bereits in Betrieb. Und der Termin der Ausstellung stand längst fest.

„Wenn es einen Kanon des modernen Bauens in Berlin gibt, gehört die Niederländische Botschaft absolut dazu “, lobt denn auch Museums-Generaldirektor Peter-Klaus Schuster. „Sie ist umwerfend.“ Und in Anspielung auf das lautstarke Ausscheiden des Niederländers aus den Planungen zum Potsdamer Platz, als er die Berliner Politik in Grund und Boden schimpfte, fügt Ko-Kurator Andres Lepik hinzu: „Wir wollen zeigen, was in den letzten zehn Jahren an Berlin vorbeigegangen sein könnte.“

Der Konjunktiv ist ein Kunstgriff. Denn ob etwas an Berlin vorbeigegangen sei, darf bezweifelt werden. Konkrete Bauprojekte, Entwürfe, Wettbewerbsbeteiligungen für Berlin sind in den zurückliegenden acht Jahren, denen sich die Ausstellung widmet, nicht auszumachen. Koolhaas denkt die Stadt, ach was, das menschliche Zusammenleben vermittels der Architektur radikal neu und anders. Und besäße die Niederländische Botschaft nicht ein höchst delikates Innenleben aus miteinander verklammerten Ebenen, sie wäre wohl nur der Würfel, als der sie dem flüchtigen Blick erscheint.

Einen „Marktplatz der Ideen“ nennt Schuster die Ausstellung, die sich als Gewirr voneinander durch beklebte Holzwände abgeteilte, unregelmäßig geformte Kompartimente präsentiert. Optisch steht der Werkstattcharakter im Vordergrund. Gleich rechts vom Eingang stapeln sich hinter einem Bauzaun die Transportkisten. Ein Ausführungsmodell, wie man es von anderen Architekten gewohnt ist, bekommt der Besucher nicht zu sehen – dafür Unmengen von Massen-, Schnitt- oder Teilmodellen, von Formen und Erprobungen in unterschiedlichsten Werkstoffen, meist in pastellenen Plastikfarben. Konzentration ist unmöglich: Koolhaas ist besessen von der Gleichzeitigkeit und wechselseitigen Überlagerung der Information, dieses immer lauteren Grundrauschens unserer Zeit, und bietet darum an den hölzernen Palisaden seiner Ausstellungsräume endlose Wandzeitungen in verwirrendem Design. Viele der ausgebreiteten Erkenntnisse überraschen. Vieles ermüdet auch, zumal wenn man es da und dort schon gesehen und gelesen hat. Koolhaas war stets ein genialer Multiplikator seiner Gedanken. Legendär sind heute bereits seine Bücher über „Delirious New York“ (1978) oder gar die vom Nachwuchs zur Bibel erkorene Kompilation „S,M,X,XL“ (1995). Das ist nun schon Geschichte – und Koolhaas ein Opfer des eigenen Beschleunigungstheorems.

Zuletzt konnte der mit dem Nobelpreis-ähnlichen Pritzker-Preis in den Olymp erhobene Niederländer einige bemerkenswerte Erfolge verbuchen, musste aber auch Niederlagen einstecken. In Peking baut er im neuen Geschäftsdistrikt eine abenteuerliche TV-Zentrale in Form einer gigantischen Schlaufe. Im amerikanischen Seattle steht der Neubau der Stadtbibliothek vor der Vollendung, deren zerklüftete Außenform sich an den neu strukturierten Arbeitsabläufen ausrichtet. In Porto ist die Casa da Música im Bau, die zwei Konzertsäle zur Stadt hin öffnet und umgekehrt die Stadt ins Haus holt. Seine für einen Rollstuhlfahrer konzipierte Privatvilla in Bordeaux sprengt jede herkömmliche Vorstellung vom Wohnhaus.

Weniger Glück war dem asketischen Niederländer in New York beschieden, wo ein Hotel-Vorhaben und die (maßstabssprengende) Erweiterung des Whitney-Museums abgesagt wurden. Oder in Los Angeles: Dort wollte er den über Jahrzehnte gewachsenen Komplex des Kunstmuseums vollständig umstrukturieren und überbauen – ein Vorhaben, vor dem die Trustees zurückschreckten, zumal selbst im goldenen Kalifornien das Spendengeld nicht mehr unbesehen sprudelt. Jetzt führt Koolhaas das Projekt am Ende der Ausstellung unter dem lapidaren Titel „Museum“ vor. Und in der äußersten Ecke ist das Material zu seinen beiden, unter dem Markennamen Guggenheim betriebenen Ausstellungshallen im Casino-plus-Megahotel „The Venetian“ in Las Vegas abgestellt. Warum so schamhaft versteckt? Ist die Verbindung von Guggenheim und Entertainment nicht der perfekte Beleg für seine These von der wechselseitigen Durchdringung von Kultur und Konsum?

Man wird nicht immer schlau aus dem Theoretiker des urbanen Bauens. Ihn, der stets im strengen Habit des Berufsmenschen auftritt, umgibt die Aura rastloser Tätigkeit: ein Calvinist, der in nüchterner Arbeit Erfüllung findet. Selten nur huscht ein dünnes Lächeln über seine hageren Züge.

Ein weiteres Projekt ist die Erweiterung des Illinois Institute of Technology in Chicago. Erbaut hat es der legendäre Mies van der Rohe. In dessen Nationalgalerie ist Koolhaas nun zu Gast. Der aufs Klassische zielende Mies und der zeitgeistige Koolhaas: Das ist die Spannweite der modernen Architektur.

Neue Nationalgalerie, Potsdamer Str. 50, bis 18. Januar. Begleitbuch in Kürze.

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