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Der Sarschin Jar Park in Charkiw vor dem russischen Angriffskrieg.

© Imago

Yuriy Gurzhys Kriegstagebuch (62): Stell dir vor, unsere Söhne müssten an die Front

Der ukrainische Autor, DJ und Musiker Yuriy Gurzhy lebt seit 1995 in Berlin. Hier schreibt er, wie er den Krieg in der Ukraine verfolgt.

31. August 2022
Unsere erste Berliner Wohnung war in der Dänenstraße im Prenzlauer Berg, nur wenige Meter von der kleinen Fußgängerbrücke zur Sonnenburgerstraße entfernt – die Brücke über die Ringbahn mit dem besten Blick der Welt und instagramreifen Sonnenuntergängen.

Anfang der Zweitausender zogen wir 400 Meter weiter in die Paul-Robeson-Straße, wo 2003 unser Sohn Boris zur Welt kam. Noch bevor er laufen konnte, war diese schmale Brücke eine obligatorische Station bei unseren Spaziergängen – von dort den vorbeifahrenden Zügen zuzuwinken war immer ein nicht zu toppender Höhepunkt.

Mir wird schlecht, wenn ich Bilder der jungen Gefallenen sehe

Oft stand neben unserem auch der Buggy von Albert, dem Sohn von Hanna, unserer Freundin, die auf der anderen Seite der Brücke lebt. Sie kommt ursprünglich aus Lwiw, ist schon seit vielen Jahren in Berlin, und ihr Sohn, der so alt wie Boris ist, hat die Faszination für die Züge im frühen Alter auch geteilt.

Heute treffen wir wieder aufeinander, Hanna und ich – auf der gleichen Brücke. Obwohl wir so nah beieinander wohnen, haben wir uns lange nicht gesehen. Wir kommen ins Gespräch und versperren Radfahrern von diversen Lieferdiensten den Weg, weil sie das Fahrradverbot ignorieren. Als wir hier vor 15 Jahren mit unseren Jungs standen, gab es all diese Wolts und Lieferandos nicht, sage ich, und mir ist bewusst, dass ich mit einer solchen Aussage wahrscheinlich wie ein frustrierter alter Mann wirke. Aber manches bleibt unverändert – nach wie vor warten hier Kinder auf den nächsten Zug.

„Weißt Du, die Jungs sind bald volljährig“, sagt Hanna, „und ich kann einfach nicht aufhören, an die 18-Jährigen in der Ukraine zu denken, die jetzt zur Armee müssen, weißt Du? Sie sind so alt wie Albert und Boris. Das ist unfassbar, einfach unfassbar. Stell Dir vor, unsere Söhne hätten an die Front gemusst, stell’s Dir nur vor!“

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Ich gebe zu, ich denke auch oft daran … manchmal sehe ich bei Facebook die Bilder von den gefallenen ukrainischen Soldaten, die nicht älter als 18,19 sein können, und mir wird schlecht davon. Wir verabschieden uns, ich schleppe die Tasche mit meinen Einkäufen und das Sechser- Pack Mineralwasser weiter Richtung Paul-Robeson-Straße.

Als Boris 2019 einen Monat lang in Charkiw die Schule besuchte und bei seinen Großeltern lebte, musste er den Opa wöchentlich zum Wasserbrunnen begleiten. Da Leitungswasser in der Ukraine nicht trinkbar ist, braucht man Alternativen, und Sarschin Jar ist eine perfekte Option – das Wasser ist klar, kostet nichts.

Dazu befindet sich der Wasserbrunnen in einem schönen Park, der neulich aufwändig saniert wurde. Zwar meckerte Boris immer, dass er sechs Liter Wasser nach Hause tragen musste. Sein Großvater behauptete aber, das sei gut für seine Muskeln. Wasser und Fitness ganz umsonst, eine unschlagbare Kombi, meinte er.

Ukrainische Soldaten bereiten ihre Waffen für den Beschuss russischer Stellungen in der Region Charkiw vor.

© dpa/Andrii Marienko

Als ich im Herbst 2021 meine Heimatstadt besuchte und im Slovo-Haus lebte, gingen wir mit einem Schulkameraden dahin – nicht, um Wasser zu holen, einfach so, um ein Ziel zu haben. Ich war von der Modernisierung beeindruckt. Sarschin Jar ist jetzt ein hübscher europäischer Park mit stylischen Sitzbänken und einem gut ausgestatteten Sportplatz. Es war angenehm voll – muskulöse Männer trainierten, Pärchen kuschelten in den dunkleren Ecken des Parks, Jugendliche tanzten und filmten Videos für TikTok. Gestern wurde Sarschin Jar beschossen, vier Menschen kamen dabei ums Leben.

„Die russen verwenden jetzt die 2S7, die ,Pfingstrosen’, das sind ganz, ganz fiese Raketen“, erzählt Sergey Myasoedov, als wir ihn anrufen. Mich besuchen heute Abend Dmytro Kurovsky aus Chernihiv und Evgen Hodosh aus Charkiw, die am 2. September in Berlin mit ihrer Band Foa Hoka auftreten.

Myasoedov war ihr Mentor und Manager in den späten Achtzigern, als wir uns kennenlernten. „Diese Pfingstrosen können Wände durchbrechen“, berichtet er aus seiner Charkiwer Wohnung im Bezirk Saltivka, der seit dem 24. Februar täglich beschossen wird. Er wirkt dabei ruhig und unaufgeregt. Dann fragt er, wo die Jungs in Berlin spielen, wundert sich, weil er den Laden nicht kennt, das Panda Platforma, wünscht ihnen viel Publikum und ein tolles Konzert.

Yuriy Gurzhy

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