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Stewart-O´-Nan-Country: Szene hier aus dem Mittleren Westen in Ohio. O´Nans neuer Roman spielt in Rhode Island.

© mauritius images / Ken Blaze / S

Stewart O´Nans Roman "Ocean State": Fluch der Liebe

Das Glück der Anderen ist auch nicht immer so wahr: Stewart O’Nans spannungsgeladener Prekariatsroman „Ocean State“.

Die Tragödie ist unausweichlich. Gleich zu Beginn des neuen Romans von Stewart O’ Nan wird das Drama vorweggenommen. Angel, eine Highschool-Schülerin, tötet ihre Mitschülerin Birdy. Beide waren in denselben Jungen verliebt, Myles. Angel, erzählt später ihre Mutter Carol, „habe nicht gewusst, was sie tat“. Ist das eine Entschuldigung? Ist die Liebe ein Fluch, der die Menschen willenlos und strafunmündig macht?

Sind alle, die in das Beziehungsdrama verwickelt sind, letztlich Opfer? Der Roman gibt keine Antworten darauf und will das auch gar nicht. ("Ocean State". Aus dem Englischen von Thomas Gunkel. Rowohlt Verlag, Hamburg 2022.

256 Seiten, 24 €.)

Stewart O'Nan, 1961 geboren, Autor von inzwischen knapp 20 Romanen, knüpft mit diesem neuen Buch an sein viel gelobtes, beklemmendes Debüt „Engel im Schnee“ aus den mittleren neunziger Jahren an, das in einer Kleinstadt spielt. Auch hier wird eine Frau zum Mordopfer, eine alleinerziehende Mutter, die das Talent hat, ihr Lebensglück immer wieder zu ruinieren.

Das Besondere an O'Nans Büchern ist die Erzählhaltung. Der Amerikaner ist ein feinfühliger Beobachter, der sich nicht über seine Figuren erhebt, sondern sich mit kluger Empathie in sie hinein versetzt, ohne die Distanz zu verlieren. „Ocean State“ ist ein meisterhafter psychologischer Krimi, dessen düsterem Setting man nicht entkommt.

Am Rande der Gesellschaft

Angesiedelt ist er im Jahr 2009 in der schäbigen Arbeiterstadt Westerly in Rhode Island, dem kleinsten US-Bundesstaat. Bei der Mordgeschichte geht es weniger darum, was genau geschehen ist, sondern warum es geschehen ist.

Stewart O' Nan stellt vier Frauen in den Mittelpunkt, die Männer – in der Regel Hohlköpfe, Versager, Alkoholiker – bleiben eher blass. Viele von ihnen stehen am Rande der Gesellschaft, der amerikanische Traum ist für sie so irreal wie eine Reise zum Mars.

Der 1961 geborene Schriftsteller Stewart O´Nan
Der 1961 geborene Schriftsteller Stewart O´Nan

© Rowohlt Verlag

Carol, Mutter von zwei Töchtern, arbeitet als Hilfspflegerin in einem Altersheim und hat ein Alkoholproblem. Ihr Ex-Mann, der Vater ihrer Kinder, hat sie vor Jahren verlassen, kümmert sich aber regelmäßig um seine Töchter. Carol lässt sich von ihren schnell wechselnden Liebhabern aushalten und auch mal die Miete bezahlen, weshalb ihre Tochter Angel sie gern mal als „Schlampe“ nennt.

Die Familie wohnt in einem heruntergekommenen Haus am Fluss, unweit einer verlassenen Fabrik. Angel, 18 Jahre alt, selbstbewusst und hübsch, wird von ihrer 13-jährigen Schwester Marie bewundert, die zu viele Süßigkeit isst und zu oft allein zu Hause ist. Und da ist schließlich Angels Mitschülerin Birdy, klein und zierlich, beliebt in der Schule, auch sie stammt aus einfachen Verhältnissen.

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Eine klassische Dreieckskonstellation. Angel und der aus einer gut situierten Familie kommende Myles sind schon lange ein Paar. Mit ihm an der Seite, weiß Angel, hätte sie die Chance, sich von ihrer Herkunft zu befreien. Heimlich trifft sich Myles jedoch auch mit Birdy im luxuriösen Sommerhaus seiner Familie am Meer. Auch Birdy kann nicht von Myles lassen, obwohl sie schmerzlich darunter leidet, ihn mit einer anderen Frau teilen zu müssen.

Eines Tages fliegt die Sache auf. In einem sozialen Netzwerk taucht ein Foto auf, das Myles und Birdy händchenhaltend zeigt. Dieses Mal geht es noch einigermaßen glimpflich für Birdy aus. Angel lauert ihr auf, schlägt und tritt gewaltsam auf sie ein.

Beim nächsten Mal – Birdy und Myles haben sich heimlich wieder getroffen – bezahlt Birdy mit dem Leben, und Myles trifft eine Mitschuld. Kontrollverlust ist das große Thema dieses Romans. Birdy hat an der Affäre mit Myles festgehalten, obwohl sie wusste, dass sie irgendwann auffliegen würde.

Psychologische Schlaglichter

Sie ist eine Gefangene, getrieben von ihrer Liebe, riskiert ein Spiel mit dem Feuer, dessen Heimlichkeit eher belastend als beflügelnd ist. Früher war sie stets das brave Mädchen, nun erlebt sie sich als rücksichtslos in ihrer Leidenschaft und ist gleichzeitig schockiert über ihre Unverfrorenheit.

Auch Angel merkt, wie sie sich selbst fremd geworden ist. Nach Birdys Tod empfindet sie keine Reue und muss „zugeben, dass sie irgendwie wollte, dass das kleine Miststück tot ist. Irgendwas stimmt nicht mir ihr.“ Verstrickt in ihren Selbstzweifeln, bleibt ihr nur noch, „die Barmherzigkeit Gottes“ zu erflehen.

Es sind diese psychologischen Schlaglichter, die Stewart O' Nan so gut beherrscht und die dem Roman, neben dem packenden Plot, seine innere Spannung geben. Der Feind lauert immer auch in einem selbst und richtet dort Verheerungen an. Eine der stärksten Szenen des Romans zeigt die getriebenen Liebenden, Angel und Myles. Ein letztes Mal sehen sie sich im Wald, in der Nähe eines Friedhofs.

Trotz der Kälte werfen sie sich auf den schneebedeckten Boden, küssen und reiben sich aneinander, als wäre der Schnee ein weiches Bett. Doch über dieser Begegnung hängt ein Damoklesschwert. Beide wissen, dass sie schuldig sind und mehrere Jahre im Gefängnis sitzen werden.

Der Roman ist aus wechselnden Perspektiven erzählt

„Ocean State“, aus wechselnden Perspektiven erzählt, ist nicht nur die schicksalhafte Chronologie eines Liebesdramas. Es geht hier viel auch um prekäre Lebenswelten, um verzweifelte Versuche, den Kopf über Wasser zu halten. In den Familien von Carol und Birdy ist das Geld immer knapp, es wird bestimmt von Junkfood und einem ständig laufenden Fernseher.

Wenn Stewart O'Nan Gesellschaftskritik übt – die Armen müssen sich ein Bein ausreißen, um über die Runden zu kommen, während die Reichen sich exklusive Ferienhäuser und teure Anwälte leisten können –, geschieht das nur unterschwellig; für Kritik mit dem Holzhammer ist dieser Autor viel zu klug.

Die Banalität des Alltags, hinter der sich die Protagonisten gern verkriechen, bekommt viel Raum in diesem Roman. Doch sie ist doppelbödig, sie liefert den Figuren nur scheinbar Schutz. Die Tragödie ist in „Ocean State“ stets nur einen Fußbreit entfernt.

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