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Cassandre (Adèle Exarchopoulos) versucht die Fassung zu bewahren.

© Mubi

Streamingtipp „Zero Fucks Given“ : Aus dem dunklen Herzen des Spätkapitalismus

In „Zero Fucks Given“ flüchtet sich eine junge Frau in einen Job für eine Billigfluglinie. Adèle Exarchopoulos verkörpert die Melancholie der Marktwirtschaft furchtlos.

Von Andreas Busche

Im Spätkapitalismus ist nicht das Herz der wichtigste Muskel, sondern der Musculus orbicularis oris. Er sorgt für das Lächeln, mit dem der Mensch die Zumutungen der Marktwirtschaft ungerührt überspielt. Das Lächeln gehört gewissermaßen zur anatomischen Grundausstattung des Kapitalismus – auch wenn andere behaupten, dass der Schließmuskel immer noch sein markantestes Merkmal verkörpert. Mit einem Lächeln lässt sich alles verkaufen, selbst das billige Parfüm auf einem dieser Kurzstreckenflüge zwischen Europas Metropolen, alles duty free selbstverständlich.

Zum Training für das Bord-Management der fiktiven Discounter-Fluglinie Wing Airlines (im Grunde ein besserer Stewardessenjob, aber mit der Lizenz, Anweisungen zu geben – nur um dann vom eigenen Vorgesetzten runtergeputzt zu werden) gehört auch ein Crashkurs im Lächeln. Für Cassandre (Adèle Exarchopoulos) werden es die längsten dreißig Sekunden ihres Lebens, ihre Mimik erstarrt zu einer einzigen Maske, krampfhaft um Fassung bemüht.

Innerhalb dieser halben Minute durchläuft ihr wie auf Befehl angeknipstes Lächeln, mit dem sie die Sicherheitsinstruktionen erklären und Duty-Free-Waren verkaufen soll, ein ganzes Spektrum von Emotionen, bis sie am Ende fast den Tränen nahe ist. „Vergiss Dein Privatleben!“, weist die Ausbilderin sie an. „Niemand interessiert sich für deine Probleme.“

Flexibilität und Konkurrenz

Auf den ersten Blick erinnert die belgisch-französische Koproduktion „Zero Fucks Given“ des Regieduos Emmanuel Marre und Julie Lecoustre, die auch das Drehbuch geschrieben haben, an eine präzise beobachtete Studie aus dem dunklen Herzen unserer Dienstleistungsgesellschaft.

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Der Selbstoptimierungssprech, den die überwiegend weibliche Crew vor jedem Flug über sich ergehen lassen muss, die kleinen persönlichen Erniedrigungen, der Zeit- und Flexibilitätsdruck in Verbindung mit einem mageren Lohn, der die Konkurrenzsituation nur noch verstärkt: kein Wunder, dass Cassandre und ihre Kolleginnen und Kollegen bei nächtlichen Zwischenstopps auf Partys die Sau rauslassen müssen. Und vor dem Start wird der Orangensaft erst mal mit ein Schuss Wodka verstärkt.

Die junge Frau befindet sich mit Ende Zwanzig bereits in einer beruflichen Sackgasse, sie führt eine Art Jetset-Leben auf Lanzarote ohne Privilegien. Die Wohnung teilt sie sich mit Kolleginnen, Tinder ist ihr einziger emotionaler Kontakt zur Außenwelt.

„Kannst du mich noch ein bisschen im Arm halten?“, bittet sie eines ihrer Dates, bevor sie bei Tagesanbruch wieder im Shuttle-Bus sitzt, der sie an den nächsten Einsatzort befördert. Die unnachahmliche Adèle Exarchopoulos spielt diesen Menschen im permanenten Transitmodus geradezu chamäleonhaft, kaum wiederzuerkennen in ihrer Uniform und hinter dem Business-Make-up. Ihre Unruhe lässt aber auch eine Einsamkeit erahnen, eine Flucht.

Eine kleine Menschlichkeit kostet den Job

Zum Halt kommt „Zero Fucks Given“, der lange Zeit an die dokumentarischen Einschübe aus der Managerwelt erinnert, die der 2014 verstorben Harun Farocki in die Filme von Christian Petzold geschrieben hat, dann sehr abrupt. Eine kleine Menschlichkeit, die sich Cassandre im Gespräch mit einer verängstigten Passagierin leistet, kostet sie den Job.

Die junge Frau, die sich in der Luft viel sicherer bewegt als auf dem Boden der Realität, ist gestrandet. Sie kehrt zu ihrer Familie in die Provinz zurück, zu ihrem früheren Leben mit den ehemaligen Schulfreundinnen, für die Cassandres Job den größtmöglichen Glamour bedeutet. Und sie muss einen Schmerz konfrontieren, der Exarchopoulos’ Performance subtil grundiert hat: Ihre Mutter ist kürzlich bei einem Autounfall gestorben.

Diese zweite Hälfte nimmt „Zero Fucks Given“ ein wenig die Spezifik seiner Kapitalismuskritik, auch wenn sie nahelegt, dass die anonyme Arbeitswelt für verlorene Menschen wie Cassandre einen Eskapismus verspricht, der alles andere als gesund ist. Die Rückkehr in die Familie, der emotionale Abschied, stellt allerdings nur eine Etappe im Leben von Cassandre dar. Am Ende steht sie, mitten in der Pandemie, in einer riesigen Menschenmenge in der Dubai Mall. Die nächste Stufe im Ausbeutungssektor, jetzt auf etwas höherem Niveau.

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