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Oliver Doerell in seiner Schöneberger Wohnung.

© Doris Spiekermann-Klaas

Musiker Oliver Doerell: Stubenhocker mit klingender Keksdose

Der belgische Musiker Oliver Doerell erforscht das Feld zwischen Jazz, Elektro und Neoklassik. Besuch bei einem Tüftler.

Der Treppenaufgang zu Oliver Doerells Wohnung in Schöneberg ist herrlich unsaniert. In den Neunzigern waren solche Treppenhäuser ganz normal in der Stadt. Oliver Doerell erzählt dann aber nicht die Geschichte von einer bevorstehenden Sanierung mit anschließender Mieterhöhung, sondern dass der Besitzer des Hauses vor Kurzem gestorben sei und zur Verwunderung der Bewohner seine Immobilie per Testament in eine Stiftung überführen ließ, um sie der Gentrifizierung zu entziehen. Hört sich an wie ein Märchen, ist aber die Wahrheit.

Wenn man sich umschaut in Doerells Habitat, wird schnell klar, dass hier auch keiner wohnt, der sich eine Sanierung unbedingt gewünscht hätte. Da ist eine spartanisch eingerichtete Küche, ein kleines Schlafzimmer, ein Außenklo, das ihm völlig genügt, und natürlich das Wohnzimmer mit dem Musikequipment, das selbst frisch gestrichen nicht unbedingt heimeliger wirken würde. Es gleicht eher einem Studio, denn Oliver Doerell nimmt hier große Teile seiner Musik auf.

Unzählige Effektgeräte und Verzerrer sind um einen Rechner herum angeordnet. An der Wand lehnen eine selbstgebastelte Karimba (eine Variante der afrikanischen Mbira), ein Glockenspiel und ein Akkordeon. Viele dieser Instrumente könne er nicht spielen, so Doerell, er benutze sie vielmehr als Klangquelle für seine elektro-akustische Musik. Er kramt eine alte Keksdose hervor, über die er ein paar Gummis gespannt hat, auf denen er mit einem Holzklöppel herumklopft. Die Töne, die dabei entstehen, nimmt er über ein Kontaktmikrofon auf. Die Dose ist sein „aktuelles Lieblingsinstrument“.

Die ersten Stücke nahm er im Underground-Club Eimer auf

Hier, zwischen all den Gerätschaften, sitze er den ganzen Tag, sagt Doerell. „Ich bin ein Stubenhocker und gehe schon lange nicht mehr aus.“ Sounds finden, Herumtüfteln und Improvisieren, das sei ihm heute der liebste Spaß. Der 48-Jährige gehört nicht zu Berlins bekanntesten Musikern, hat aber eine weltweite Fangemeinde. Colin Newman von der englischen Postpunkband The Wire und dessen Frau Malka Spiegel, die sich als Mitglied der belgisch-israelischen Band Minimal Compact in den Achtzigern einen Namen gemacht hat, gehören beispielsweise zu seinen Bewunderern. Für jemanden wie Doerell, der von sich sagt, seine Wurzeln lägen genau in dieser Art von idiosynkratischem New Wave, ist das eine ganz besondere Form von Wertschätzung. Aufgewachsen ist er als Sohn deutscher Eltern in Brüssel. Mit Anfang 20 kam er nach Berlin, zog in ein besetztes Haus in der Auguststraße in Mitte – das Epizentrum des chaotischen, sich gerade neu erfindenden Berlin nach dem Fall der Mauer. Im Eimer, einem wichtigen Ort der damaligen alternativen Szene, den es längst nicht mehr gibt, nahm er seine ersten Stücke auf und versuchte, sich musikalisch zu finden. Nach und nach entwickelte er dann die Projekte, an denen er heute noch beteiligt ist, Bands wie Cummi Flu, Swod und Dictaphone, Letzteres ein Trio, mit dem er gerade eine neuePlatte mit dem Titel „APR 70“ eingespielt hat.

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Zu hören gibt es darauf eine Art Jazz Noir. Doerell spielt Bass und Gitarre und steuert elektronische Klackergeräusche bei, Roger Döring steuert verhaltene Saxofon- und Klarinettenlinien bei und Alex Stolze eine zarte Violine. Es ist eine halb akustische, halb elektronische Musik. Der elegisch verhangene Doerell-Sound lässt sich auch bei seinem poppiger angelegten Projekt Cummi Flu heraushören. Seit einer Weile produziert er in Zusammenarbeit mit iranischen Musikern auch regelmäßig Musik für das Tanztheater von Modjgan Hashemian.

Doerell kann mit seiner Musik leben, obwohl er den Erfolg nicht sucht

Obwohl Doerells Musik schwer kategorisierbar ist, landet er vor allem gemeinsam mit dem Pianisten Stephan Wöhrmann in seinem Duo Swod neuerdings in der Schublade Neoklassik. Irgendwas mit Klavier und Elektronik, das ist gerade groß angesagt, Musiker wie Nils Frahm oder Francesco Tristano feiern damit Welterfolge. Er könnte gerade überall auftreten mit Swod, sagt Doerell, das Interesse sei riesengroß. Tatsächlich jedoch liegt das Projekt gerade auf Eis. „Es muss an meiner postpunkigen Anti-Haltung liegen, dass ich an diesem Neoklassik-Boom einfach nicht teilhaben möchte“, sagt Doerell. Was er aus diesem Bereich zu hören bekomme, sei für ihn „teilweise kommerzieller als jede Hollywood-Soundtrack-Scheiße“. Seit alle Welt die Neuentdeckung des Pianos feiert, fragen sich er und sein Swod-Partner: „Wie kriegen wir denn jetzt unseren Klaviersound wieder los?“

Man könnte meinen, so spricht einer, der Erfolg mit großem Eifer vermeiden will. Doch es scheint Doerell eben zu reichen, hier und dort mal mit diesem, mal mit jenem Projekt aufzutreten, in seiner Wohnung mit Außenklo Tag und Nacht Musik zu produzieren und auf seiner Keksdose herumzuspielen. „Komischerweise funktioniert alles irgendwie so, dass ich super davon leben kann“, sagt er.

Konzert von Dictaphone bei der Denovali Label Night: Silent Green, 12.5., 21 Uhr

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