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Das Dolomitental Villnöss in Südtirol.

© imago/Westend61

Südtirol-Roman „Muttersprache“: Zweisprachiger Zwiespalt

Wut und Würsteldampf: Maddalena Fingerle erzählt im preisgekrönten Debütroman „Muttersprache“ von einem Südtiroler, der eine „reine“ Sprache sucht.

Warum heißt das Bett nicht Bild?" fragt sich der alte Mann in Peter Bichsels berühmter Kurzgeschichte „Ein Tisch ist ein Tisch“. Er beschließt, für sich selbst die Alltagsdinge umzubenennen, bis er schließlich im Bild schläft und auf dem Wecker am Teppich sitzt, um sein Frühstück einzunehmen – und ihn seine Mitmenschen nicht mehr verstehen. Ein ähnlich radikales Verhältnis zur Sprache und zur Frage, wie sie was bezeichnet, haben in Maddalena Fingerles Roman „Muttersprache“ („Lingua madre“) der Bozner Biagio Prescher und sein Sohn Paolo.

Zum Kummer seiner verbal übersprudelnden Frau stellt Biagio das Sprechen nach und nach ein, bis er als „aphasisch“ gilt. Dafür versieht er sämtliche Haushaltsgegenstände mit Zetteln, auf denen die entsprechende italienische Bezeichnung steht, denn die Familie ist trotz ihres deutschen Nachnamens „welsch“.

Sprachspiel und Philosophie

Der Name Biagio Sprecher ist ein Anagramm für „crepai, borghesi“. Das bedeutet, im Passato remoto (also im historischen Perfekt) als der edelsten italienischen Vergangenheitsform gehalten: „Ich bin verreckt, ihr Spießer“. Der Name des jugendlichen Ich-Erzählers Paolo Prescher wiederum steht für „parole sporche“, dreckige oder schmutzige Wörter, der seiner Schwester Luisa Prescher „capire Husserl“, Husserl verstehen.

Das verrät der Anhang dieses ungewöhnlichen Debütromans und gibt ihm damit seine sprachspielerische bis philosophische Richtung vor.

Maddalena Fingerle wurde 1993 in Bozen geboren. Sie studierte Germanistik und Italianistik an der Universität München, wo sie mittlerweile als wissenschaftliche Mitarbeiterin tätig ist. Ihr Urgroßvater väterlicherseits stammt aus München, daher der deutsche Nachname. Der italienische Teil ihrer Familie habe immer größten Wert darauf gelegt habe, dass sie korrektes und kein Südtiroler Italienisch (beziehungsweise einen Sprachmischmasch wie „facciamo blaun“ für Blaumachen) spreche, verriet sie in einem Interview.

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Eine zentrale Absicht ihres Romans ist es, die Illusion Südtirols, des Alto Adige zu zerstören, wonach in dieser historisch so bewegten autonomen Region die perfekte Zweisprachigkeit gepflegt werde. Beziehungsweise Dreisprachigkeit, denn es gibt ja offiziell auch noch das Ladinische. Der Ich-Erzähler hält diese Form des Rätoromanischen mit dem Furor eines Thomas Bernhard für eine Erfindung.

Nicht minder heftig zieht er über die faschistischen Prunkgebäude aus den 1930er Jahren mit ihren angeblich fehlerhaften Beschriftungen ober über die berühmten Bozner Lauben her: „Es reicht, unter den Lauben hindurchzugehen, den Geruch von Würstel zu riechen, die auf immer und ewig im heißen Wasser eingeweicht liegen, es reicht, diese Trostlosigkeit des Nordens zu erleben, die nach warmem Bier und Asphalt stinkt, um alles ganz genau zu kapieren.“

„Zweisprachig wie mir“: Paolo Preschers Abneigung gegen die als unrein empfundene Muttersprache steigert sich zur Obsession. Diese Abneigung überträgt er ungefiltert und mit durchaus ermüdender Pennäler-Erregung auf die eigene Mutter: „Die Buchstaben, wenn du sie dir nur genau genug anschaust, sind ehrlich, und sie verraten dir Geheimnisse. Mutter, madre, zum Beispiel. Em, a, de, er, e: MADRE. Em, e, er, de, a: MERDA. Scheiße. Merda, madre, merda, madre, merda, madre. Scheiße, Mutter.“

Aus Bozen nach Berlin

Kaum hat er das altsprachliche Gymnasium mit Bestnoten beendet, wünscht sich Paolo Prescher nichts dringender, als eine „reine“ Sprache zu sprechen. Zu diesem Zweck fährt er kurzerhand nach Berlin, so dass doch noch so etwas wie eine Handlung in Gang kommt. Sie steht eindeutig im Schatten der munter vor sich hinwuchernden Reflexionen des Paolo Prescher, die mal originell, mal eher spätpubertär ausfallen.

Das sympathisch naive Linguistik-Talent findet prompt eine Anstellung in einer Bibliothek, die Züge des Jacob-und-Wilhelm-Grimm-Zentrums der Humboldt Universität trägt. Und ebenso prompt verliebt sich Paolo zwischen den Bücherreihen in eine Mailänderin („schwüle Stadt“), die reinstes Italienisch spricht. Sie heißt Mira di Pienaglossa, ein Anagramm für „Sapone di Marsiglia“, auf Deutsch prosaisch Kernseife.

[Maddalena Fingerle: Muttersprache. Roman. Aus dem Italienischen von Maria Elisabeth Brunner. Folio Verlag, Wien und Bozen 2022. 192 Seiten, 22 €.]

Doch anstatt sein hochdeutsches Glück zu genießen, verschlägt es Paolo, der alles wörtlich nimmt, und Mia ausgerechnet wieder nach Bozen, mit tragikomischen Konsequenzen. Da lassen die erneuten Tiraden nicht lange auf sich warten, etwa darüber, dass die Bozner nichts anderes täten, als Schuhe zu kaufen: „Hier schauen dich die Leute herablassend an, wenn du so herumläufst wie in Berlin und angezogen bist wie in Berlin.“

Maddalena Fingerles Roman „Muttersprache“ wurde in Italien mit nicht weniger als fünf literarischen Auszeichnungen bedacht, darunter dem Italo-Calvino-Preis für das beste unveröffentlichte Debüt. Die Übersetzerin Maria Elisabeth Brunner stammt selbst aus Brenner/Brennero, was ihrer sensiblen und hochversierten Übertragung sicherlich zu Gute kam. Ein Aufschrei der Empörung aus Südtirol wurde bislang nicht vernommen. Dazu kreist dieser Roman wohl zu sprachverliebt um die Obsessionen seines seltsamen Helden Paolo Prescher, der auf ewig durch die Bozner Lauben irrt.

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