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Silvesteraufführungen: Tanztraum & Tischfeuerwerk

Berliner Silvesteraufführungen im Radialsystem, im Konzerthaus und in der Komischen Oper.

Mit ihren Silvesterprogrammen machen sich Berlins Bühnen wenig Mühe. Es gibt dann eben das, was es sonst auch zu sehen gibt. Anders bei Sasha Waltz & Guests im Radialsystem am Wasser. Das Haus lädt zum Feiern ein. Wie auf einer Flusskreuzfahrt durfte man sich fühlen zum Jahresausklang. Die Reise ging ins Mittelalter, ans Mittelmeer, ins Herz europäisch-arabischer Kultur. Ein Männerquartett – Juan Kruz Diaz de Garaio Esnaola, Sidi Larbi Cherkaoui, Luc Dunberry und Damien Jalet – singt traurig-schön, wie in uralten Klostermauern. Sie verprügeln einander, ziehen Vaudeville-Nummern aus der Tasche, sie kasteien sich, jagen als Flagellanten, Friedensdemonstranten, religiöse Eiferer, als Boy Group und Fußball-Hooligans durch die Weltgeschichte.

„D’avant“: Vor sieben Jahren ist dies ebenso athletische wie poetische Stück bereits entstanden – und immer wieder eine Entdeckung. „D’avant“ (noch einmal am 2. Januar) besitzt visionäre Kraft. Die vier Tänzer und Choreografen mit den wunderschönen Stimmen kreisen mit unerhörter Leichtigkeit um das Mysterium der Kultur – im Staub einer Baustelle, wo sie ihre zerstörerischen Fantasien ausleben. Aufbauen und Einreißen, das ist hier eins, wie Zartheit und Gewalt. Dieses „Früher“ kommt aus der Zukunft, die Konfrontation und Vermischung von Kulturkreisen ist wahrlich keine Erfindung des globalen Zeitalters. Man kann sich tief versenken in die Rituale der Künstler, wie sie Hohes und Mystisches durchstoßen mit dem Gestus der Straße, der Großstadt, es erinnert an die Passionen des Alain Platel. Und so gleitet man hinüber zum Silvesterbüffet, vom Radialsystem zu einem fairen Preis angeboten, und zum Tanz mit DJ Ipek ins neue Jahrzehnt. Draußen, auf der Terrasse im Schnee an der Spree, war man dann mitternachts nah dran am Hauptstadtfeuerwerk. Rüdiger Schaper

Im Familienkreis stellt sich zu Silvester manchmal die schwierige Aufgabe, einen schiefen Haussegen mit bunten Luftschlangen zu dekorieren. Auch das Konzerthausorchester und sein scheidender Chef Lothar Zagrosek wollten am 31. Dezember gute Stimmung verbreiten – die Idee jedoch, das Publikum beim Kartenkauf über die Programmfolge abstimmen zu lassen, konnten nicht darüber hinwegtäuschen, dass es sich bei dem Abend um ein verkleidetes Abonnementskonzert handelte.

Zwar ist es lobenswert, dem grassierenden Trend, klassische Musik durch das Einfliegen von Fernsehprominenten wie Harald Schmidt, Herbert Feuerstein oder Alfred Biolek künstlich populär zu machen, zu widerstehen. Andererseits wäre die Art und Weise, wie man mit der netten Idee eines musikalischen „Silvestermenus à la carte“ umging, durchaus ein lohnender Fall für „Rach, den Restauranttester“ gewesen. Der jedenfalls hätte darauf hingewiesen, dass ein Oberkellner, der mit launigen Sprüchen das Entrée serviert, die folgenden Gänge nicht wortlos auftischen darf. Auch hätte er bemerkt, dass die in ihren ersten Sätzen durchaus fein abgeschmeckte „Rhapsodie espagnole“ von Maurice Ravel kaum zum Dessert taugt. Statt ihrer wurden Saint-Saëns „Rondo capriccioso“ und Sarasates „Zigeunerweisen“ – von Baiba Skride mit Risikobereitschaft und erfrischend lustvoll ausgekosteten Glissandi vorgetragen – viel zu früh als Tischfeuerwerk verheizt.

Zu einer schonungslosen Analyse aber hätte dem Tester das Hauptgericht gedient: Um mit der D-Dur-Symphonie des Beethoven-Vorläufers Luigi Cherubini gegenüber all den Neunten Symphonien zu punkten, welche die Konkurrenz Silvester aufzufahren pflegt, müsste der Rhythmus bei jedem Übergang „à point“ sitzen. Außerdem genügt es nicht, wenn nur einzelne Musiker wie die erste Oboe rückhaltlose Begeisterung für die rare Kreation ausstrahlen. Das Publikum bekam zwei Nachschläge der soliden Hausmannskost. Carsten Niemann

Beethovens Neunte ist Chefsache. Kein künstlerischer Orchesterleiter lässt es sich nehmen, dem Moment des Unerhörten, das in dieser Musik zu erhalten und zu verteidigen ist, neu nachzuspüren. Beethoven steht als Liebling des Konzertpublikums obenan. Manchen ist er zugleich ein Gott, wie Max Klinger den Komponisten dargestellt hat. Der Chefdirigent aber weiß, dass sich das Werk, das seinen Hörern vertraut ist, mit jeder Lesart ändert. Davon geht Marek Janowskis spannende Interpretation mit dem Rundfunk-Sinfonieorchester im Konzerthaus aus. Zum Nimbus der Chefsache hat Beethoven selbst beigetragen. Die Uraufführung 1824 findet unter der „Oberleitung Beethovens“ statt. Das heißt, dass der total ertaubte Komponist dirigierend versucht, den Spielern seine Inspiration zu vermitteln. Heutige Musiker wissen, was die scheinbar sinnlose, störende „Oberleitung“ bedeutet: Dass der schöpferische Wille des Komponisten zu realisieren sei. Das hat ein Dirigent wie Janowski längst verinnerlicht, obwohl jeder weiß, dass die authentische Vorstellung Beethovens durch Tradition überlagert ist. Aber große Interpreten lesen aus der Partitur und Überlieferungen, dass Exzeptionelles erwartet wird; die Sonderstellung.

Janowski kennt auch die Gefahren: Das Bild der jubelnden Volksmasse, das Streben nach Höherem, das vom Künstlerideal der Zeit ausgeht, verbunden mit stilistischer Unbeirrtheit. Er sucht und findet die Beethovensche Haltung, die eine willensmäßige ist, in dem Postulat „Deutlichkeit“. Keine raunende Exposition, sondern präzise, fast scharfe Einsätze der ersten Violinen, und das RSB geht mit seinem Maestro durchs Feuer, durch das vitalste Scherzo mit der Gelassenheit auspendelnder Phrasen. Der Lärm der Musik wird nicht gedämpft, weil er zu ihrer Angespanntheit gehört. Unpathetisch das fließende Adagio, vielstimmig, vielschichtig. Das Freudenthema in Feinzeichnung leitet das unaufhaltsame Finale ein, Franz-Josef Selig singt ein souveränes Rezitativ. Dem fabulösen Rundfunkchor wird kein gehauchtes Misterioso „Über Sternen“ abverlangt. Aller Maßstab ist bei Janowski rein musikalisch, eine Aufführung von glühender Farbigkeit. Sybill Mahlke

Kino ist größer als das Leben, dafür lieben wir es. Filmmusik ist nicht immer große Kunst, aber oft ein zielsicherer Griff in unseren emotionalen Bildervorrat. Wer sich zur Jahreswende daran wagt, braucht Fingerspitzengefühl und einen Charme, der alles in der Schwebe zu halten vermag. Zum Träumen verleiten, aber bitte nicht stören. Hartes Unterhaltungshandwerk, das die Komische Oper mit ihren Konzerten zum neuen Jahr meistern will.

„Great Musical Moments in Film“ hat Generalmusikdirektor Carl St. Clair ausgesucht, als Reverenz an seine amerikanische Heimat und auch als Kompliment an sein Orchester, dessen stilistische Bandbreite den wuselnden Chef beeindruckt. Radiomann Knut Elstermann soll mit seinem Kino-know-how Zusammenhänge erhellen, die man nicht sieht, denn die Musik erklingt fern ihrer Bilder – und donnert oft ins Leere. Einzig Bernard Herrmanns Suite aus Hitchcocks „Vertigo“ hat echte Konzertqualität: eine Suchtmusik bester Opernherkunft, erbarmungslos herabgekühlt wie ein starker Martini. Und schon gerät St. Clair ins Schlingern. Auch die Gesangssolisten Erika Roos und Günter Papendell wissen nicht recht, in welchen Film sie geraten sind. Bernsteins „Somewhere“ verliert sich ins Nirgendwo, Mancinis „Moon River“ mutiert zur verkrampften Tanzteenummer. Und wie Morricones Arie aus „Spiel mir das Lied vom Tod“ mit fahlem Klaviersatz auf „huhu“ gesungen klingt, kann sich jeder vorstellen, auch wenn er nichts gesehen und gehört hat: zum Gruseln.

Dass Bilder auch in der Komischen Oper schon laufen gelernt haben, zeigt eine Videobotschaft von John Williams, direkt aus Hollywood. Sie präsentiert auf einer hereinschwebenden Leinwand einen alten Mann, der regungslos für das Spielen seines blechgepanzerten Superman-Themas dankt. Wahrscheinlich wurde der Clip 50-mal mit jeweils anderen Namen produziert und liegt gegen Entgelt zum Download vor. Aber die Leinwand wäre den einen oder anderen Gedanken wert gewesen. Dann hätte man vielleicht etwas erfahren können: über Bilder und Klänge, über das Leben und seinen Rhythmus. Ulrich Amling

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