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Berliner Musikfest: Tatort Amerika, Friedhof Europa

Musikfest: Ashkenazy mit Schostakowitschs Achter

Das Berliner Musikfest strebt seinem Finale entgegen, auch beim Schostakowitsch-Schwerpunkt ist Halbzeit. Nach der Eröffnung mit einer furiosen Neunten unter David Robertson, nach Mariss Jansons’ kulinarischer Zehnter, Kurt Masurs kontrolliert entgleisender Leningrader Sinfonie, Bernhard Haitinks gespenstischer Nummer 15 und Simon Rattles donnernder Vierter nun also Vladimir Ashkenazy mit der achten Sinfonie.

Zuvor hatte das Philharmonia Orchestra aus London Alban Bergs „Lyrische Suite“ und Zemlinskys „Symphonische Gesänge“ nach der Gedichtsammlung „Afrika singt“ als fragende, sehrende Musik interpretiert, als Manifestationen der Vergeblichkeit. Berg geht scheue Schritte ins Ausweglose, Zemlinsky stattet seine Rassismus-Miniaturen – mit Titeln wie „Lied der Baumwollpacker“ oder „Totes braunes Mädel“ – mit bitterböser Ironie aus. Afrika singt? Ja, es singt in Amerika von Unterdrückung, Misshandlung und Mord. Leider werden die Gesänge aus dem Jahr 1929 nur selten aufgeführt, dabei verwandelt Zemlinsky die Formensprache der Wiener Schule in schockgefrorenen Jazz. Trommelschläge in Slowmotion: Ashkenazy am Pult und der ungemein plastisch modellierende Bariton Dietrich Henschel begreifen sie als Auftakt für groteske Szenarien, für flackernde Schattenrisse vom Tatort Amerika. Die Gewalt kippt in die Karikatur, die Verzweiflung entstellt das Antlitz der Opfer zur Fratze. Und klingt dabei doch seltsam leicht, fein und gemein.

Slowmotion auch bei Schostakowitschs c-Moll-Sinfonie von 1943. Friedhof Europa, ein Stillleben vom Krieg. Im Largo der Achten breitet das Philharmonia Orchestra ein Leichentuch aus, jeder Ton betäubt vom Schmerz – Schostakowitsch als konsequente Fortführung von Berg und Zemlinsky. Schon im Eingangssatz umspielt das Sekundintervall den Hauptton als Chiffre für Reglosigkeit und Erstarrung, bis der gesamte sinfonische Apparat auf der Stelle tritt. Gestocktes Blut, lose Enden, Lähmung – umso bewegender die Soli des Englischhorns, der Gesang der Celli, das sanfte Vibrato der Violinen, die Bizarrerien der Piccoloflöte. Ashkenazy duckt sich unter den vergleichsweise sparsamen FortissimoSchlägen, dirigiert mit hochgezogenen Schultern und angehaltenem Atem, immer auf der Hut, auf dem Sprung. Sein Schostakowitsch ist gewiss der leiseste, zärtlichste, eindringlichste dieses Musikfests. Am Ende erstirbt selbst das Sekundintervall und mit ihm das C. Jubel in der Philharmonie.

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