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Im Jugenddrama „Lach doch mal“ (1986) von Leida Laius und Arvo Iho zeigen sich die Risse der sowjetischen Gesellschaft.

© Arsenal Presse

Tauwetter und Perestroika: Als das Kino kurz seine Freiheit fand

Das sowjetische Kino bis 1990 war kein Monolith, es existierte in einer ungeahnten Bandbreite. Eine Reihe über die Tauwetter-Phase und die Perestroika-Jahre erkundet neues Terrain.

Noch vor dem ersten Bild trudelt auf der Tonspur eine Blechdose durch Rashid Nugmanovs „Igla“ (Nadel). Die erste Einstellung zeigt eine Allee hinter zwei Häusern, eine Katze maunzt, eine Männerstimme spricht aus dem Off: „Eines Tages ging er einfach so auf die Straße und ging Richtung Bahnhof.“

Ein Schlagzeug setzt ein, ein Mann schlappt aus dem Bildhintergrund gemächlich in den Vordergrund, zückt eine Kippe, auf der Tonspur spielt „Zvezda po imeni Solnce“ („Ein Stern genannt Sonne“) der Band Kino, bevor er quasi durch die Kamera hindurchtritt.

Bevor „Igla“ überhaupt begonnen hat, hat Nugmanov mit Stilbewusstsein und Lakonie den Dialogfetisch und Handlungsfimmel abgestreift, die so viele osteuropäische Kinematografien vor 1990 lähmten; auch jene Filmkulturen, die heute gemeinhin als sowjetischer Film bezeichnet werden. Sein Film ist eines der Hauptwerke der Retrospektive „Jugend, Aufbruch und Widerstand im sowjetischen Kino – Tauwetter und Perestroika“, die am Freitag im Berliner Kino Arsenal eröffnet wird.

Zäsuren der Sowjetunion

Die Reihe, die Nadežda Fedorova und Gary Vanisian zusammengestellt haben, blickt auf zwei der zentralen polit-geschichtlichen Zäsuren der Sowjetunion, die mit neuen Freiheiten für Filmemacher:innen verbunden waren. Zugleich zeigt sie, dass es den einen Film in der Sowjetunion nicht gab und die Freiräume nicht zuletzt jenseits der Zentren von Moskau und Leningrad aufgegriffen wurden. Neue Erzählformen entstanden.

Viktor Tsoi wurde in „Igla“ („Die Nadel“) von Rashid Nugmanov zur Symbolfigur der Perestroika-Jugend.

© Arsenal Presse

Entlang der zeitlichen Cluster von Tauwetter (etwa 1956 bis 1968) und Perestroika (1986–1991) wird eine Filmvielfalt sichtbar, die das komplexe Verhältnis der Teilrepubliken und ihrer Filmstudios und Traditionen erahnen lässt. In einem jedoch waren sich die Filme aller Teilrepubliken ähnlich: Männer waren als Filmemacher die Regel, Regisseurinnen die Ausnahme. Gerade einmal zwei Filme der Reihe stammen von Frauen.

Am Anfang des Dokumentarfilms „Baltie zvani“ des Letten Ivars Kraulītis blinzeln die Fenster eines Krans in die Morgensonne, bevor der Regisseur auf den Spuren eines kleinen Mädchens den Alltag von Riga erkundet. In „Barev, es em“ („Hallo, ich bin’s“) blickt der armenische Regisseur Frunze Dovlatyan entlang der Biografie des armenisch-sowjetischen Kernphysikers Artyem Alikhanyan aus der Gegenwart zurück in die Kriegszeit. Und der Usbeke Elyer Ishmukhamedov gibt in „Nezhnost“ („Zärtlichkeit“) in den Kapiteln seines Films den Geschichten dreier junger Menschen in einem Sommer in Taschkent Raum.

Musik spielt eine wichtige Rolle

Gemeinsam ist all diesen Filmen ihre atmosphärische Leichtigkeit. Menschen gleiten scheinbar unbeschwert durch Räume, die Umgebung zieht an ihnen vorüber. Die Filme des Tauwetters sind ganz auf ihre Protagonist:innen fokussiert.

Der Cinemascope-Film „Als ich ein Kind war“ (1969) des litauischen Regisseurs Algirdas Araminas gehört zu den Entdeckungen der Reihe.

© Arsenal Presse

Musik spielt als jazziger Soundtrack, als Schlager aus dem Radio oder als Beatmusik, die die sommerliche Vorfreude von Kindern in Ishmukhamedovs Film unterlegt, eine wichtige Rolle. Im Bild taucht sie allerdings nur selten auf. Musik ist in dieser Aufbruchsphase Ausdruck eines Lebensgefühls, kein Distinktionsmerkmal durch Stil.

Das ändert sich im Kino der Perestroika unter anderem durch einen jungen Mann, der mit 30 Jahren aus Alma-Ata in Kasachstan nach Moskau wechselt. Rashid Nugmanov beginnt 1984 sein Studium am Staatlichen All-Unions-Institut für Kinematografie. Im Oktober 1985 führt er Regie bei einer „Blitzübung“ eines Kommilitonen, dem Kamerastudenten Alexei Mikhailov. Herauskommt dabei der halbstündige Dokumentarfilm „Ija-Hha“ über die Leningrader Musikszene.

Mit „Ija-Hha“ katapultiert Nugmanov die Rockmusik in die Wahrnehmung der Filmschule und des sowjetischen Films. 1988 realisiert Alexei Uchitel den Dokumentarfilm „Rok“ über die Leningrader Szene, während Sergei Solovyev, Nugmanovs Professor, einige Protagonisten eher brav-flippig in seinen Spielfilm „Assa“ einbaut.

Szene aus „Kleine Vera“ (1988) von Vasili Pichul.

© Arsenal Presse

Heimlicher Protagonist all dieser Filme ist Viktor Tsoi, Sänger der Band Kino und Protagonist in Kirill Serebrennikows Biopic „Leto“ von 2018. Mehr als alle seine Kollegen verkörpert Tsoi die Haltung, sich nicht länger anzupassen. „Igla“ ist ihm komplett auf den Leib geschrieben, doch Nugmanov verlegt die Geschichte nach Kasachstan. Tsoi spielt den jungen Slacker Moro, der durch die Keller, Kneipen und Sanatorien von Almaty tingelt, bevor er mit seiner Freundin an den ausgetrockneten Aral See fährt, um sie vor Drogenhändlern in Sicherheit zu bringen.

Die kasachische Neue Welle

Moro selbst kehrt zurück, um ihnen die Stadt nicht zu überlassen. „Igla“ ist die Apotheose der New Wave der Perestroika-Ära. Nugmanov nutzt das städtische Setting Almatys ebenso wie die karge Seenlandschaft für eine stylische Mischung aus Actionfilm und Aussteigererzählung.

Der Film wurde zum Türöffner und Aushängeschild für die neue kasachische Welle jener Jahre, die das Zeug gehabt hätte, den Blick auf das sowjetische Kino nachhaltig auszudifferenzieren. Stattdessen gelang es Russland in den folgenden Jahrzehnten, sich auch als filmischer Nachfolgestaat der Sowjetunion zu inszenieren.

Anfang der 2000er Jahre schrieb die kasachische Filmkritikerin Gulnara Abikeyeva: „Die kasachische Neue Welle, die die westlichste unter den östlichen war, öffnete das Kino Zentralasiens zur Welt. Die Orientierung hin zum westlichen Kino kam als Protest eines kolonisierten Landes gegen die Sowjetisierung.“

Die Vielfalt dieser Filme unterstreicht die Notwendigkeit, das Kino der Sowjetunion als Bündel von kinematografischen Strömungen zu verstehen. Die Phase der Perestroika bedeutete auch das Ende der Bereitschaft von Filmemacher:innen, sich unter diesem Label zusammenfassen zu lassen.

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