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Expressiver Exorzismus. Angela Winkler und Alexander Lang.

© imago stock&people

Theater: Der letzte Stich

Das Berliner Ensemble zeigt Robert Wilsons gut hundert Jahre alte Tragödie „Lulu“. Angela Winkler stirbt in ihrer Titelrolle gleich mehrere schöne Theatertode. Das Drama geriet seinerzeit in die Fänge der Zensoren.

Wie schön sie stirbt, wie elegant. Der Tod ist ihre leichteste Übung. Lulu stirbt in der ersten und in der letzten Szene und ein paar Mal zwischendurch. Der Tod gibt den Pausenclown, er öffnet die Tür, er ist der unsichtbare Strippenzieher, der Rausschmeißer in Robert Wilsons ferngesteuerter Vaudeville-Show am Berliner Ensemble. Der große Ranschmeißer auch: Wer sich mit Lulu einlässt, hat bald ausgespielt. Orgasmus heißt Exitus in Frank Wedekinds „Monstretragödie“, die vor gut hundert Jahren in Deutschland Skandal machte und in die Fänge der Zensur geriet. So alt ist das Stück, und hier fühlt es sich noch viel älter an – wie ein blitzblank poliertes, museales Artefakt.

Und das liegt nicht oder nicht allein an der extravaganten Besetzung der Titelrolle mit Angela Winkler. Lulu, die Kindfrau, die minderjährige Männerfantasie, das ist das Klischee, die Tradition. An ihrer Bühnenerfahrung gemessen, könnte Angela Winkler Lulus Großmutter sein. Aber was hat Erotik mit dem Lebensalter zu tun? Ist nicht das Gehirn das aktivste Sexualorgan? Und funktioniert Wedekinds Rein-Raus-Drama nicht sowieso viel besser, wenn es als Albtraumspiel der reinen Fantasie abrollt?

Auf den ersten Blick scheint die Idee einer alterslosen, souveränen, jedenfalls nicht Lolitahaften Lulu brillant. Wilson hat mit älteren Schauspielerinnen unsterblich subtile Figuren entwickelt. Marianne Hoppe als King Lear, Edith Clever als Marion in „Dantons Tod“, Inge Keller als Barde in „Shakespeares Sonette“ und auch Angela Winkler als Jenny in der „Dreigroschenoper“ am BE. Oder Isabelle Huppert in Heiner Müllers „Quartett“: Robert Wilson besetzt wie in der Oper, nach Stimme und Persönlichkeit. Vollkommen ist nur das Morbide, Sex ist für ihn Körperbeherrschung, Stilgefühl und Haltung. So wird das Theater zu einem Ort, der die Zeit überwindet, und nichts macht schöner als der Theatertod.

Doch von der idealen Form, die er in jeder seiner Produktionen anstrebt, ist er hier weit entfernt. Wenn die Form zum Gefängnis wird, wenn sie den Blick nicht weitet und das Herz nicht hebt, tragen selbst die Requisiten Trauer. Nichts bewegt sich in der „Lulu“, die Bilder gefrieren. Zaubertricks verdampfen. Und wenn Angela Winkler dann doch das unschuldige Mädchen spielt, mit glockenheller Stimme und kokettem Augenaufschlag, ist es eben nur eine Groteske.

Eine seltsame Unterspannung lag über der Premiere, wie Mehltau. Nichts von der leichtfüßigen Präzision, die Wilsons „Dreigroschenoper“ auszeichnet und zum Publikumsrenner gemacht hat. Und, nebenbei, Brecht/Weill von der Last des politischen Missverständnisses befreit. Das hätte auch dem Schwerenöter Wedekind gutgetan: endlich einmal eine „Lulu“, in der nicht nur rabiat gevögelt, hektisch gemordet und panisch der Aufenthaltsort gewechselt wird.

Wilson aber treibt der Geschichte alles Leben, alle Liebe aus. Ein Exorzismus mit expressiven Gesten. Lulus Männer überbieten sich in zappeliger Fahrigkeit – der dicke Dr. Goll von Giorgios Tsivanoglou, der auch den Quälgeist Rodrigo Quast mimt; der unglückliche, windschiefe Schöning von Alexander Lang. Ein resolutes lesbisches Schreckgespenst stellt Anke Engelsmann als Gräfin von Geschwitz auf Wilsons Bühne, die einem Schafott gleicht. Was ist es nur, das sie alle so hässlich und aseptisch macht, zu karikierten Kreaturen?

Und dann sind es wieder die Alten, die die Ruhe bewahren, die auch einmal eine Szene straffen und vertiefen. Jürgen Holtz – Lulus Vater – macht lange Gänge, scheint von weit her zu kommen, er hat ein Geheimnis. Als einziger verströmt er so etwas wie Gefahr, mit seiner weiß geschminkten Fratze. Und der wunderbaren Ruth Glöss fliegen die Sympathien zu – dem kichernden Gnom. Sie ist der running gag des dreistündigen Abends. Ein Puck, unverdrossen gut gelaunt. In dieser Menagerie blutleerer Kunstfiguren spielt sie eine Künstlerin, eine Malerin, beiläufig und doch im Zentrum. Das Bild der Lulu aber, der Rahmen ist leer. Lulu, verschwunden. Verloren sowieso.

Ruth Glöss und Jürgen Holtz sind auch die Einzigen, denen man das knarzige Zersingen der Songs von Lou Reed nachsieht. Da liegt das größte Problem der Lulu-Litanei: Das Ensemble schwächelt musikalisch. Lou Reed ist gewiss kein sehr anspruchsvoller Komponist. Aber seine Songs verlangen Raffinesse, eine gewisse Coolness, in seinem Zynismus verbirgt sich große Zartheit. Es sind Klassiker dabei wie „ A Gift“ („I’m just a gift to the women of this world“) und, aus Velvet-Underground-Zeiten, „Sunday Morning“. Lou Reed hat Hymnen und Ohrwürmer geschrieben, die die Jahrzehnte überdauerten. Hier verliert sich sein New Yorker Flair zwischen dem Orchestergraben, wo sich eine sechsköpfige Band redlich müht, und Einspielungen aus der Konserve.

Am Hamburger Thalia-Theater, mal mit Tom Waits, mal auch schon mit Lou Reed, hat Robert Wilson einst das Schauspiel-Rock-Musical erfunden, mit deutschen Dialogen und englischen Songs. In Kopenhagen schuf er einen unvergessenen „Woyzeck“, wieder mit Tom Waits. Herbert Grönemeyer schrieb ihm vor einigen Jahren eine spielbare, poetische Schauspielmusik für „Leonce und Lena“. Einige dieser hybriden Kreationen, vor allem der „Black Rider“, entfalteten eine solche Kraft, dass sie an anderen Bühnen nachgespielt wurden.

Jetzt reiht sich Wilson in die lange Reihe der Regisseure ein, die gescheitert sind an Wedekinds „Lulu“. Dabei spielt es keine Rolle, wie frei oder texttreu gearbeitet wurde, wie alt oder jung die Hauptdarstellerin ist, ob nackt oder mit höfischer Delikatesse gekleidet wie Angela Winkler; wie immer bei Wilson entwarf Jacques Reynaud Clownskostüme von ausgesuchter Eleganz. „Lulu“ will einfach nicht gelingen, das Stück ziert und windet sich, sein Eigenleben ist zäh wie die Moral, die es so brutal bekämpfte.

Ein totes Stück, oder eines, das nur als Todesvision lebt. Das hat Wilson gespürt, daher die wiederholten Sterbeszenen. Er sagt sie mit schriller Moritatenstimme selbst an. Und es schneidet tief in die Seele, wenn Angela Winkler in der ersten (Sterbe-)Szene Lou Reeds „Rooftop Garden“ singt, wie ein Vogel, hoch oben auf dem Dach. So viel Verheißung, und nichts davon erfüllt sich.

Wieder am heutigen Donnerstag sowie am 1. und 2. Mai.

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