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In der Inszenierung von „Total! Normal?“ vom Theater Strahl rauscht eine S-Bahn in die Spree und das Publikum entdeckt eine bunte Unterwasserwelt.

© jörg metzner/Jörg Metzner

Theater für junges Publikum: Was heißt schon normal?

Das Theater Parkaue und das Theater Strahl finden in ihren Inszenierungen von „Beautiful Thing“ und „Total! Normal?“ inspirierende Antworten.

Jamie ist verknallt in seinen Mitschüler Ste. Who cares? Ist doch schön für ihn. Nur leider sehen das nicht alle so. In der Klasse ist der Junge Außenseiter und bekommt regelmäßig auf die Mütze. Auch seine alleinerziehende Mutter Sandra – die in der Wahl ihrer Lover kein wirklich glückliches Händchen hat und davon träumt, ihre eigene Kneipe aufzumachen – muss sich mit der Tatsache, einen schwulen Sohn zu haben, erstmal anfreunden. Aber vor allem scheint Ste, der auf derselben Hochhaus-Etage wie Jamie wohnt, die Zuneigung nicht wirklich zu erwidern. Wer behauptet, die erste Liebe wäre leicht?

Der britische Autor Jonathan Harvey entwirft in seinem Stück „Beautiful Thing“ ein klassisches, queeres Coming-of-Age-Szenario – verortet in einer Londoner Stadtrandsiedlung der prekären Sorte, äußerlich unter Druck gesetzt von brütender Sommerhitze, sozialen Konflikten und natürlich gesellschaftlichen Konventionen. Die urbane Lovestory hatte 1993 großen Erfolg, ein paar Jahre später ist sie von Hettie MacDonald auch verfilmt worden – unter Wahrung des Geists der Vorlage, die den bitter-süßen Vogel Jugend besingt.

Selbstverständlich queer

Im Theater an der Parkaue hat jetzt Regisseurin Babett Grube „Beautiful Thing“ wiederentdeckt und in einer neuen Übersetzung von Lisa Wegener inszeniert. Als Reminiszenz an die 90er weht noch ein Vorhang aus funkelnden CDs über die weitgehend abstrakt gehaltene Hochhaussiedlungs-Bühne von Camille Lacadee, ansonsten aber entfaltet sich die Geschichte in größtmöglicher Gegenwärtigkeit, angepasst an Berliner Verhältnisse. Was die Frage aufwirft, ob Queersein heute nicht eine andere Selbstverständlichkeit hat als zur Entstehungszeit des Stücks.

Die Antwort überlässt Grube in ihrer schlauen, schönen Inszenierung dem Publikum. Nicht nur die Annäherung zwischen Jamie (Yazan Melhem) und Ste (Salome Kießling), auch die Klassenfragen, die Harvey anspielt – etwa im Verhältnis zwischen Mutter Sandra (Birgit Berthold) und ihrem Freund Tony (Andrej von Sallwitz) – setzt sie mit fast schon herausfordernder Beiläufigkeit ins Bild. Wer projiziert hier Probleme? Und welche?

Den eigenen Platz finden

Ja, es wird auch heute noch für Momente angespannt still im jungen Publikum, wenn sich zwei Jungs auf der Bühne leidenschaftlich küssen. Was wiederum der willkommene Anstoß sein sollte, nach der Vorstellung umso mehr zu reden. Über eigene Prägungen, Orientierungen, Ängste und Sehnsüchte vielleicht.

Das Jugendtheater ist und bleibt der perfekte Ort für solche Aushandlungen: Was gegen Ausgrenzung hilft. Und wie das geht, den eigenen Platz in dem Geflecht aus Zuschreibungen und Erwartungen zu finden, in dem jede:r aufwächst. Weil sie ja doch immer wieder neu auf den Tisch kommen, die Fragen nach Identität – und Normalität.

Vom gefräßigen Norm-Aal

Am Theater Strahl macht das Publikum Bekanntschaft mit einem besonderen Tier: dem Norm-Aal. Der neigt dazu, Menschen zu verschlingen und ihnen seine schwarze Uniform-Haut überzustülpen. In einer Unterwasserwelt, die doch eigentlich wimmelt vor schillernden Geschöpfen in prächtigen Muschel- und Algen-Gewändern. Eben hierher verschlägt es eine Gruppe von Fahrgästen der Berliner Ringbahn. Denn die S 42 ist unversehens aus der Schiene und in die Spree gerauscht. Prima! Alle Neuankommenden machen das schwimmende Völkchen schließlich bunter.

Ste (Salome Kießling) und Jamie (Yazan Melhem) wohnen im selben Haus und kommen sich in „Beautiful Thing“ näher.

© Dave Großmann/Dave Großmann

„Total! Normal?“ heißt diese Premiere, erarbeitet vom Ensemble Angestrahlt, dem Jugendclub des Theaters Strahl. Der hat für die Produktion erstmals Spieler:innen mit und ohne Behinderung versammelt und in der künstlerischen Leitung von Jannina Brosowsky eine „relaxed Performance“ auf die Bühne gebracht. Bedeutet unter anderem: Es geht nicht so laut zu, wer eine Pause braucht, kann den Saal jederzeit verlassen und wieder zurückkommen. Dazu gibt es Übertitel in einfacher Sprache.

Eine in jeder Hinsicht inklusive Veranstaltung also, die obendrein großen Spaß macht. Weil sie in Reimen, gerappt oder einfach geradeheraus zum selbstbewussten Auftritt empowert („Auf der Bühne des Lebens spiele ich mich – toi, toi, toi, der Vorhang fällt“).

Ähnlich endet auch „Beautiful Thing“. Was nicht zuletzt dem Musikgeschmack der jungen Nachbarin Leah (Claudia Korneev) zu verdanken ist, die die Schule geschmissen hat, Drogen nimmt und glühend Mama Cass verehrt (richtig, die Sängerin der Band „The Mamas and the Papas“). Über deren bewegte Biografie weiß sie alles. „Du kannst dich doch nicht ein Leben lang hinter einer toten amerikanischen Sängerin verstecken“, rügt Jamies Mutter sie einmal.

Das vielleicht nicht. Aber die Lieder dieser Frau helfen definitiv, wenn sonst nichts hilft. Oder niemand. Das Publikum – beim Einlass mit Bürsten und Duschköpfen als Mikrofonersatz ausgestattet – darf auch mitsingen: „Make your own kind of music, sing your own special song“.

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