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Theaterkritik: Aggro Oslo

Radikale Erinnerung: Die deutsch-norwegische Koproduktion "John Gabriel Borkman" beim Theatertreffen.

Edvard Munchs „Schrei“ ist in der letzten Woche für den Rekordpreis von 120 Millionen Dollar versteigert worden. Das expressive, aber auch so zarte Bild gilt als Inbegriff des namenlosen Schreckens der Zivilisation. Dabei waren die Künstler des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts deshalb modern, weil sie das Archaische angruben. Das lässt sich ebenso von den Dramatikern jener Zeit sagen - nur dass ein Ibsen nicht zur Auktion gelangt. Der Wert seiner Werke ist unermesslich, immateriell. Endlos wandelbar.

Das Theatertreffen zeigt im Prater der Volksbühne „John Gabriel Borkman“. Die deutsch-norwegische Koproduktion ist eine Schlacht, eine gezielte Entgrenzung, das Terror-Spektakel dauert bis zu zwölf Stunden (die Vorstellungen in dem kleinen Raum sind ausverkauft). Man kommt, geht, schaut, man flieht und kehrt zurück. Abstoßung und Anziehungskraft der Inszenierung von Vegard Vinge, Ida Müller und Trond Reinholdtsen halten sich die Waage. Henrik Ibsens „Borkman“ hat als betrügerischer Bankier, als Liebender, als Familienvater Schuld auf sich geladen. Er war im Gefängnis, aber er hat nicht gesühnt: Noch immer will er die Welt verbessern nach seinen Maßstäben. Diese Dauer-Performance wandelt psychische Energie und Qual in handgreifliche Gewalt um. Sie nervt, sie fasziniert, die comichaften, an Jonathan Meese geschulten Bilder gehen unter die Haut.

Es steckt viel Volksbühnen-Furor und -Parodie in dieser Herkulesarbeit, die den Augiasstall aber nicht ausmistet, sondern immer mehr zumüllt. Vegard Vinge und sein Ensemble setzen die Geister des Nordens frei. Frank Castorf hat vor bald zwanzig Jahren den „Borkman“ am Deutschen Theater als grandiose Parabel auf die DDR und die Herrschaft alter Männer herausgearbeitet. Heute muss man nicht mehr an Staatsterror, sondern an die Privatjustiz eines Anders Breivik denken.

In der Frankfurter Schirn geht dieser Tage die Ausstellung „Edvard Munch – der moderne Blick“ zuende. Der norwegische Maler hat Entscheidendes beigetragen zur Durchsetzung seines Landsmannes Ibsen. Munch schuf vor dem Ersten Weltkrieg Bühnenbilder, Bildwelten für Max Reinhardts Ibsen-Inszenierungen in Berlin. Ein Kritiker schrieb damals: „Man atmete die Luft der Verzweiflung, fühlte die brennende Angst“. Menschen rannten auf der Bühne hin und her „wie gefangene Tiere“. Daran hat sich wenig geändert, wie man jetzt sieht. Das Neue in der Kunst ist oft radikale Erinnerung. Zum Ersten, zum Zweiten... Rüdiger Schaper

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