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Romane voller Geister. Der 38-jährige Thomas Glavinic.

© laifplus

Thomas Glavinics Roman "Lisa": Serienmord mit Wattestäbchen

In Österreich wird er wie ein Popstar gefeiert: Thomas Glavinic sucht mit seinem Roman "Lisa" die vierte Dimension. Eine Begegnung in Wien.

Thomas Glavinic muss sich sehr konzentrieren an diesem schönen, kalten Wintertag in Wien. Das bemerkt man zunächst gar nicht, wie er einem im Café Amacord am Naschmarkt mit seinem kahl geschorenen Kopf scheinbar entspannt gegenübersitzt, einen verlängerten Schwarzen nach dem anderen bestellt und manierlich Rede und Antwort steht. Doch kommt er später mehrmals auf seine Konzentrationsmängel zurück, auch weil ihm noch die Aufzeichnung einer mehrstündigen Radiosendung namens „Claudia Stöckls Frühstück bei mir“ bevorsteht.

Der 1972 in Graz geborene Thomas Glavinic ist dieser Tage ein gefragter Mann in Österreich. Von der Boulevardzeitung „Kurier“ über das Magazin „News“ bis zu der vor allem bei Senioren beliebten Nachmittagssendung „Winterzeit“ im ORF will ihn jedes Mainstreammedium zu seinem neuen Roman „Lisa“ befragen. Glavinic ist ein Popstar in Österreich, was er schrecklich findet – „Ich wäre lieber ein Rockstar“ –, aber einzuordnen weiß: „Der Markt hier ist klein. Viele Leute denken, ich würde so viele Bücher verkaufen wie Daniel Kehlmann – die können sich gar nicht vorstellen, was der außerhalb Österreichs verkauft.“

Unweigerlich denkt man beim Namen Kehlmann sofort an Glavinic' Literaturbetriebssatire „Das bin doch ich“ aus dem Jahr 2007. Darin leidet ein Schriftsteller namens Thomas Glavinic nicht zuletzt daran, dass sein 2006 veröffentlichter Roman „Die Arbeit der Nacht“ bei Weitem nicht so erfolgreich ist wie Daniel Kehlmanns zeitgleich erschienener Roman „Die Vermessung der Welt“. Allerdings war „Die Arbeit der Nacht“ im richtigen Literaturbetriebsleben und außerhalb davon der entscheidende Durchbruch für Glavinic. Das Buch erschloss ihm nach vier hauptsächlich bei der Literaturkritik wahrgenommenen Romanen ebenfalls ein großes Publikum und verkaufte sich über 40 000 Mal.

Spätestens seitdem gilt Glavinic als einer der wichtigsten, innovativsten Schriftsteller seiner Generation. Seines Witzes, seiner Ironie und seiner Buch für Buch wechselnden Sujets wegen, vor allem aber auch, weil seine Romane gleichermaßen medienkritisch und moderne Schauermärchen sind. So hat der Ich-Erzähler von „Der Kameramörder“ zwei Kinder zum Selbstmord gezwungen und dabei gefilmt; in „Die Arbeit der Nacht“ versucht sich der Held namens Jonas als letzter Mensch auf Erden zurechtzufinden, vor allem mithilfe seiner Erinnerungen und seiner Videokamera. Und der vor zwei Jahren veröffentlichte Roman „Das Leben der Wünsche“ beginnt damit, dass ebenjener Jonas einem Mann begegnet, der ihm die Erfüllung von drei Wünschen garantiert, die im Verlauf des Romans ihr unkontrollierbares Eigenleben führen.

„Lisa“ passt gut in diese Reihe. Auch hier ist die Atmosphäre von Beginn eine bizarre, unheilvolle: ein Mann hat sich mit seinem kleinen Sohn in ein abgelegenes Landhaus geflüchtet. Er trinkt viel, kokst viel, kommuniziert mittels eines Internetradiosenders mit der Welt und erzählt aus seinem Leben und dass eine Serienmörderin vielleicht auch hinter ihm her sei. „Meine Idee war der Schluss“, so Glavinic, „dieses Buch ist gewissermaßen von hinten weg geschrieben. Ich habe meinen Sohn in den Schlaf gewiegt, und dann lag ich da im Dunkeln und die ganze Zeit ratterte mein Hirn.“ Dabei kam ihm der Fall der Heilbronner Polizistenmörderin in den Sinn, die auch in vielen Ländern gesucht wurde. Die es aber nie gab: Die Ermittler waren den DNA-Spuren von verunreinigten Wattestäbchen aufgesessen. „Mich ärgerte diese profane Auflösung – ein Phantom! – und dachte: Was ist, wenn das mit den Wattestäbchen auch nicht stimmt?“ Was in „Lisa“ folgt, nennt er einen „Schlenker ins Metaphysische“, „eine grauenhafte Vorstellung“. Es soll hier nicht verraten werden. Denn Glavinic’ schlanker, knackiger Roman lebt von einer Spannung, die sich erst am Schluss entlädt und für ganz der Realität zugewandte Leser eine herbe Enttäuschung sein könnte.

„Dieses Buch kommt meinem Spieltrieb entgegen“, sagt Glavinic und erklärt aufgeräumt, dass er immer mal wieder ein heiteres Buch schreiben müsse, um nicht depressiv zu werden. „Das Leben der Wünsche“ und „Die Arbeit der Nacht“ seien ihm sehr an die Nieren gegangen. Tatsächlich war „Das bin doch ich“ ein heiteres, komisches Buch über einen sehr neurotischen Schriftsteller. Man fragt sich aber, was an „Lisa“ lustig sein soll. Der Plot? Der idiosynkratische Erzähler? Die Geschichten über Lisas Mordtaten? Thomas Glavinic aber erfreut sich auch jetzt, da er noch eine Melange bestellt und keine Anzeichen von Zappeligkeit zeigt, an vielen Szenen seines Buches. Etwa wie Lisa drei Lehrer in einer Kiste einsperrt und vergräbt. Oder einen Fußballer kocht: „Das finde ich lustig, da amüsiere ich mich beim Schreiben. Ich fand ja auch, dass ,Der Kameramörder’ ein heiteres Buch war. Die Komik in der Sprache, die sprachliche Hilflosigkeit des Erzählers stehen in einem schönen Gegensatz zu den Verbrechen.“

Merkwürdig ist, dass man im Verlauf des Gesprächs mehr und mehr den Eindruck bekommt, plötzlich selbst Teil der Romanwelt von Glavinic zu sein, mit ihren „metaphysischen Schlenkern“, wie er sie nennt, ihren Ebenen jenseits der Realität. Zum einen sitzt hier ein Schriftsteller, der genau Auskunft geben kann über das Zustandekommen und die Poetologie seiner Romane. Selbst wenn er das anteilig nur mit zehn Prozent beziffert („der Rest ist mir völlig unklar“) und er „keine Ahnung hat, was für Geister durch meine Romane marschieren“, wie er es einmal in einem Aufsatz beschrieben hat.

Andererseits lässt Glavinic durchblicken, dass ihn so einige Neurosen plagen, dass er nur mit Licht schlafen kann, und zwar nie vor drei, vier Uhr morgens, „wegen der vielen Bilder in meinem Kopf“. Oder dass er sich hier im Amacord gerade wirklich zusammenreißen muss.

„Ich habe Spaß daran, Bücher zu schreiben, die man so dahinlesen kann, die klar in ihrem Ausdruck sind, unter deren Oberfläche aber viel anderes mitschwingt; Bücher, die sich nach mehrmaliger Lektüre erst erschließen“, sagt er. Genauso klar kann er sich über seine Arbeit als Schriftsteller äußern. Etwa dass jedes Buch aufs Neue eine Herausforderung für ihn ist, und dass er auch sehr gut sein Können, seine Routine einzuschätzen weiß. Glavinic schreibt seit seinem 18. Lebensjahr, und vor Erscheinen seines Debüts „Carl Haffners Liebe zum Unentschieden“ 1999 hatte er bereits acht Romane geschrieben, „die alle nicht gut waren, aber heute noch eine Hilfe für mich sind. Ich weiß, wenn etwas schiefläuft, wann ich falsch abgebogen bin.“ Und er weiß, dass die Arbeit des Schriftstellers nicht nur das Schreiben ist. Sondern er auch Bücher verkaufen und sich medial inszenieren muss: „Das eine ist Literatur, das andere ist der Buchmarkt. Und klar, ich mache das. Ich bin froh, dass es nicht mehr so ist wie zu Zeiten meines vierten Romans ,Wie man leben soll’. Zwei Termine hatte ich damals auf der Buchmesse in Leipzig. Und bei einer Lesung in Berlin im Roten Salon war überhaupt niemand da.“ Er freut sich und fügt an: „Als junger Autor brauchst du ewig, bis du dir ein Publikum erschrieben hast.“

Sitzt man jedoch länger mit ihm zusammen, gibt es immer wieder Irritationen. Es beschleicht einen das Gefühl, dass sich wie bei seinen Romanen auch unter der Oberfläche des Menschen und Schriftstellers Thomas Glavinic einiges verbirgt: Rätselhaftes, gewissermaßen Paranormales. Und dass er es ernst meint, wenn er sagt, „dass wir vieles gar nicht wissen, unsere Wahrnehmung beschränkt ist und viele Dinge möglich sind, die wir heute für unmöglich halten. Und das meine ich nicht esoterisch!“ Plötzlich erzählt er, wie es ihn neulich juckte, bei einer Diskussion der Moderatorin die Wangen abzuschlecken, einfach so, und er von diesem Bild nicht mehr losgekommen sei. Oder dass er sich im Radio nicht anhören, im Fernsehen nicht sehen, Bilder von sich nicht ertragen kann: „Das macht mir Angst. Das ist mir zu öffentlich.“ Oder er mit der Bahn nur erste Klasse fahre, „um mir die Leute vom Leib zu halten, so rein physisch“. Und dann zeigt er auf einmal auf ein Pärchen am Nebentisch: „Schauen Sie mal, die Frau, die immer mit dem Fuß schlenkert. Ich stelle mir vor, wie Fuß und Unterschenkel weg sind und einfach irgendwo daneben hängen, zusammen mit dem Schuh. Dieses Bild habe ich die ganze Zeit vor Augen.“

Entgegnet man ihm vorsichtig: „Ein bisschen komisch sind Sie schon“, lacht er: „Ach, ist Ihnen das auch aufgefallen!“ Nachdem er noch von einer von viel Bier und Cocktails getränkten Recherchereise nach Havanna erzählt hat, muss er los, zu seinem Radio-Frühstück mit Claudia Stöckl. Er zieht sich eine schwarze Mütze auf, eine schwarze Jacke über und setzt eine Sonnenbrille mit riesigen Gläsern auf. Und wie er da die Linke Wienzeile den Naschmarkt entlang wegmarschiert, sieht er nicht mehr aus wie ein bürgerlicher Familienvater und österreichischer Schriftsteller, sondern wie eine Figur aus einem Quentin-Tarantino-Film.

Thomas Glavinic: Lisa. Roman. Hanser Verlag. München 2011. 204 S, 17, 90 €.

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