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Der Schriftsteller Thomas Hettche. Er wurde 1964 bei Gießen geboren.

© Joachim Gern

Thomas Hettches neuer Roman „Sinkende Sterne“: Letzter Raum von Freiheit

Der Berliner Schriftsteller hat ein großartig komplexes Buch voller Erinnerungen, essayistischer Passagen und Landschaftssagen geschrieben. Damit setzt er sich auch gegen den ideologisch getönten Missbrauch der Literatur zur Wehr.

Im Grunde genommen ist alles wie früher und doch ist es anders. Der Ich-Erzähler, der sich bald darauf als Schriftsteller mit dem Namen Thomas Hettche herausstellen wird, nimmt die Autobahn in Richtung Süden, passiert in Basel die Grenze zur Schweiz, lässt den Thunersee links liegen und kommt schließlich im Kandertal an, wo das Auto auf einen Zug verladen wird, um durch den Lötschberg transportiert zu werden.

In seiner Kindheit, so erinnert sich der Erzähler, habe er diese Fahrt geliebt; das Durchgerütteltwerden auf den Gleisen; den Augenblick, in dem am Ende des Tunnels Licht aufscheint. Doch dieses Mal ist die Atmosphäre bedrohlich, unheimlich. Dieses Gefühl wird den gesamten Roman begleiten. Uniformierte mit Maschinenpistolen patrouillieren entlang des Zuges. Die Einreise ins Wallis, so sagt einer der Soldaten durch das Seitenfenster, sei streng reglementiert, und der Ich-Erzähler beeilt sich, den Brief durch das Fenster hinauszureichen, der ihn legitimiert.

Diese beklemmende Szene ist der Auftakt zu Thomas Hettches neuem Roman, der seine Leser zunächst leise, aber zunehmend auf umso eindringlichere Weise in eine Welt hineinzieht, die durchaus als eine realistische angeschaut werden kann, die aber trotzdem haarscharf neben der Wirklichkeit angesiedelt ist.

Zwischenbilanz eines Schriftstellers

„Sinkende Sterne“, so hat Thomas Hettche es in einem Gespräch erzählt, sei ein Roman, der in einem schmerzhaften Prozess der Selbstbefragung entstanden sei. Eine Art von Zwischenbilanz eines Schriftstellers, eine Reflexion darauf, was das Schreiben, was Literatur, was Kunst bedeuten und bedeutet haben.

Mit dem Genre der Autofiktion, wie es derzeit in der Gegenwartsliteratur verstanden wird, hat Hettches Roman kaum Berührungspunkte, im Gegenteil: Er ist ein subtiler, weil ästhetisch aufgeladener Angriff auf identitätspolitische Auswüchse, hat aber zugleich die eigene Verantwortung dafür im Blick.

Der Ich-Erzähler reist in die Schweiz, um das Ferienhaus seiner Kindheit in Besitz zu nehmen. Die Eltern hatten es vor Jahrzehnten erworben, weit über ihren finanziellen Möglichkeiten. Auch dieses Haus im Wallis ist keine Idylle, sondern ebenfalls ein eher düsterer, gegen Ende auch mit Schauerelementen aufgeladener Ort. Nun sind die Eltern gestorben; der Roman-Hettche zieht in das Haus ein, und in diesem Augenblick bricht etwas auf; eine versiegelte Oberfläche, unter der die Vergangenheit liegt und schwärt. Das gilt für den Ort wie für den Ich-Erzähler gleichermaßen.

„Sinkende Sterne“ ist ein komplexes Buch, in dem Naturbeschreibungen und Landschaftsmythen, Erinnerungen, essayistische Passagen und konkrete Erlebnisse sich abwechseln und ineinanderfließen. Im Tal hat sich eine Naturkatastrophe ereignet: Nach einem gigantischen Bergrutsch hat die Rhone sich gestaut; der daraus entstandene See hat mehrere Dörfer und zahlreiche Menschen überflutet.

Das Wallis wurde auf diese Weise quasi von der Außenwelt abgeschnitten, doch niemand hat Anstalten gemacht, die Folgen der Katastrophe zu bereinigen. Stattdessen haben sich jahrhundertealte Machtstrukturen reinstalliert; der Herrscher des Wallis ist der sogenannte Kastlan, der sich in einem Machtkampf mit der klerikalen Instanz, der Bischöfin von Sion, befindet, die an zentraler Stelle im Roman einen denkwürdigen Auftritt haben wird.

Zauberberg im Wallis

Bei seiner Einbestellung zum Kastlan wird dem Ich-Erzähler mitgeteilt, dass sein Haus enteignet werden und er das Wallis schnellstmöglich wieder verlassen solle. Die Bischöfin, so hofft er, könnte ihm in dieser Sache als Verbündete nützlich sein.

Doch warum bleibt dieser Mann eigentlich dort, in dieser archaischen Gegend, in der man ihn nicht haben will? Liegt der Zauberberg nun plötzlich im Wallis? Oder liegt es auch an Marietta, einer Frau, die mit ihrer Tochter im Dorf lebt und die der Ich-Erzähler als eine alte Kindheitsliebe wiedererkennt?

Marietta ist ein Gefäß, in dem der Erzähler seine Sehnsüchte ablegt. Und zugleich ein Kulturspeicher der alten Geschichten und Sagen der Landschaft, in denen der Mensch als ein auf selbstverständliche Weise mit der Natur und den höheren Mächten verbundenes Wesen erscheint.

Elegant, sprachlich ausgefeilt

Thomas Hettche demonstriert in „Sinkende Sterne“ eindrucksvoll sein Können. Es ist ein eleganter, bis ins Kleinste sprachlich ausgefeilter Roman mit einem bitteren Ende. Das Beharren auf der universellen Gültigkeit von Schönheit ist der Ankerpunkt des gesamten Romans. Es markiert seinen Erzähler zugleich als einen aus der Zeit gefallenen Menschen, der sich gegen den ideologisch getönten Missbrauch der Literatur zur Wehr setzt.

Das Buch ist voll von Referenzen, Verweisen auf Filme, Lektüren, ästhetische Prägungen. „Was uns interessierte“, heißt es zu Beginn, „war der Raum von Freiheit jenseits der Moral. Doch die Klugheit des Ästhetizismus ist schon immer auch seine Dummheit gewesen.“

Das Spiel der Postmoderne und des Poststrukturalismus, das sämtliche ästhetischen Wahrheiten pulverisiert hat, hat eben auch den Raum eröffnet für die Kunstfeindlichkeit des Identitären. Dass man sich mit derartigen Thesen nicht beliebt macht, liegt auf der Hand. „Sinkende Sterne“ fehlt fast demonstrativ auf der Longlist des Deutschen Buchpreises.

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