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Kultur: Über den Strom und in die Dörfer

Krisztián Grecsó erkundet in seinem Roman „Lange nicht gesehen“ das ungarische Landleben

Lange nicht gesehen“, das sagt sich so dahin, als Begrüßungsformel unter Freunden oder guten Bekannten. Man kann sich ein Schulterklopfen dazu vorstellen, eine leichte Verwunderung. Es ist eine harmlose Floskel, ein Gesprächseinstieg, der das Angebot enthält, der andere möge erzählen, wie es ihm in der Zwischenzeit ergangen ist. „Lange nicht gesehen“ heißt auch der erste Roman des jungen ungarischen Lyrikers und Geschichtenerzählers Krisztián Grecsó, aus dem der von Péter Esterházy protegierte und mit Aufenthaltsstipendien der Akademie der Künste und des LCB ausgzeichnete Autor, in Berlin auch schon vorgelesen hat.

Von harmlosem Geplauder ist der Roman des 1976 in Szegvár, einem winzigen Dorf im Komitat Csongrád, geborenen Krisztián Grecsó allerdings meilenweit entfernt. Sein Erzähler ist ein 23-jähriger Bibliothekar, der sein Heimatdorf vor sieben Jahren verlassen hat, in einem „trotzigen und grausamen Groll“, wie es heißt, nach einer Meinungsverschiedenheit im engsten Freundeskreis, von der er sagt, er nenne sie „in edler Schlichtheit den großen Streit.“

Edle Schlichtheit? Hier ist ganz offensichtlich ein Ironiker am Werk. Denn schlicht ist hier gar nichts, edel ebenso wenig. Gergely Gallér ist eine empfindsame Seele, sehr verletzlich und deshalb überaus versiert in allen Techniken des Selbstschutzes. Er ist ein Fantast, ein Geschichtenerzähler, ein manischer Mystiker und Mythologe, einer, der alles tut, um der Wahrheit nicht ins Gesicht sehen zu müssen. Und dieser Fabulierer berichtet uns nun auf gut 400 Seiten von seiner Herkunft, erzählt von dem kleinen, in der südlichen ungarischen Tiefebene gelegenen Dorf Sáraság, in dem sich unschwer das Heimatdorf des Autors erkennen lässt.

Auslöser des Erzählvorgangs ist der Anruf eines alten Freundes zum 23. Geburtstag am 12. März 1990. Er teilt Gergely Gallér mit, dass die LPG des Dorfes aufgelöst werde und man nun endlich das „Klein-Tagebuch“ einsehen könne. Gergely solle sich Urlaub nehmen, seine Sachen packen und „nach Hause“ kommen. Niemals hat sich der Erzähler vorgestellt, „Fragen des Landes“ könnten in seinem „armseligen Leben herumbohren“, aber er ist zur Abreise entschlossen. Und kann es nicht verhindern, dass das Dorf, das er als „das große Ganze“ in seinem Inneren verkapselt hat, plötzlich in Einzelteile zerfällt, mitgerissen im „schmerzvollen Fluss der Erinnerung“, der alles wiederaufleben lässt.

Das ist kein langer ruhiger Strom, auch wenn es zunächst so aussieht, als nehme uns der Erzähler fürsorglich an der Hand, führe uns durch das Dörfchen, zeige uns das Denkmal des heiligen Johannes von Nepomuk, die kleine Burgwand, an der sich die Jugend trifft, die „Stelle der Synagoge“. Spätestens wenn wir dort angelangt sind, merken wir, dass es in diesem Roman von Stromschnelle zu Stromschnelle geht. Immer wieder tauchen die gleichen Geschichten und Motive auf, man meint, Halt in der Wiederholung zu finden, und wird bald schon wieder verunsichert.

Einen roten Faden aber gibt es: das erwähnte „Klein-Tagebuch“. Es scheint das Geheimnis des Romans zu enthalten, von dem man bis zum Schluss hoffen darf, es werde gelüftet. Geschrieben hat es eine Frau, die im Dorf „Tante Pannika“ genannt wird. Sie soll die Lieblingsschülerin von Ferenc Molnár in Budapest gewesen sein – der Roman schwelgt in literarischen Anspielungen, von Molnár über Magda Szabó bis hin zu Tolstoi und George Orwell –, musste die Stadt jedoch verlassen, weil ihr Onkel Juden vor den Nazis versteckt hat. Ihr Leben lang liebte sie jenen Ede Klein, nach dem das Tagebuch benannt ist.

Als KZ-Überlebender nach Sáraság zurückgekehrt, war er der erste, den man des Mordes verdächtigte, als 1948 eine junge Frau getötet wurde. Drei Wochen lang hielt er den Anschuldigungen stand, dann floh er, zusammen mit seiner alten Mutter und zwei weiteren jüdischen Familien. Und die Katholiken waren wieder unter sich, weitgehend unbehelligt von der kommunistischen Regierung. 1966 ist er noch einmal zurückgekehrt, um die geliebte Frau zu sehen und vielleicht sogar mit ihr zu leben.

Am nächsten Morgen finden sie antisemitische Schmierereien an ihrem Haus. Ede Klein wird ein zweites Mal vertrieben.

Ohne genau zu wissen, was es mit Ede Klein auf sich hat, gründen ein paar Heranwachsende im Mai 1981 einen nach ihm benannten Verein. Gergely Gallér ist der Vorsitzende. Wie alle Zusammenschlüsse dieser Art macht auch dieser „Verein“ nichts anderes, als ein paar einsamen Jungs das Gefühl von Zusammenhalt zu geben. Man hängt herum, man beratschlagt sich, und man beobachtet.

Die vier verstehen sich als Botschafter, die den Kontakt zum Jenseits pflegen. Sie sehen die Schatten der Toten, die in ihren Augen weiter am Dorfleben teilnehmen, morgens erwachen sie mit einem „Wortschwall“ auf den Lippen, dessen Herkunft und Bedeutung ihnen ebenso rätselhaft wie auslegungswürdig erscheint.

Krisztián Grecsó lässt die Geschichte in lauter Geschichten zerfallen. Man merkt, dass er von der kleinen Form herkommt. Es gibt wunderbare Episoden, kluge Schwejkiaden, treffende Einzelbeobachtungen, zauberhafte und derbe Liebesgeschichten, unzählige literarische und biblische Motive, doch der Spannungsbogen, der den Roman zusammenhalten soll, funktioniert nicht. Wie lange Grecsó das zentrale Geheimnis seines Romans verbergen kann, ist beeindruckend. Doch nach der Enthüllung ist das Ganze nah am Klischee. Wieder einmal werden Künstlertum und Judentum in eins gesetzt. Nun gut.

Krisztián Grecsó: Lange nicht gesehen. Roman. Aus dem Ungarischen von Timea Tankó. Claassen Verlag, Berlin 2007.

409 Seiten, 19,95 €.

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