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RUSSIA, DONETSK PEOPLE’S REPUBLIC - APRIL 10, 2023: A view of damaged buildings in the city of Artyomovsk. Denis Pushilin, acting head of the Donetsk People’s Republic (DPR), said that the Ukrainian Armed Forces had blown up the building of the city administration while retreating from Artyomovsk. Video grab. Best quality available. DPR Head Press Office/TASS / action press

© action press/DPR Head Press Office/TASS/action press

Die ukrainische Gegenwart in einer Anthologie: Wie der Alltag im Krieg ist

Ukrainische Wissenschaftlerinnen, Schriftsteller, Journalistinnen und Soziologen berichten in „Aus dem Nebel des Krieges“ von ihrem Leben nach der russischen Invasion.

Der Schriftsteller Artem Chapeye glaubt, dass der Überfall der Russen auf die Ukraine am 24. Februar 2022 schon sehr häufig treffend analysiert wurde. Vielleicht seien „persönliche Geschichten jetzt eindringlicher“. Also erzählt er zunächst davon, wie er in den Herbstferien vor der russischen Invasion noch eine Auslandsreise mit seiner Frau und ihren beiden Söhnen unternahm oder wie er mit den Kindern in seiner Kiewer Wohnung immer mal wieder in einem Zelt schlief, „vor allem ein Vorwand, um aneinandergekuschelt einschlafen zu können.“ Auch am Abend vor dem Kriegsbeginn schliefen sie in dem Zelt im Kinderzimmer.

Danach, klar, änderte sich alles. Es folgte die Flucht in den Westen des Landes, unter chaotischen Umständen. Inzwischen befinden sich Chapeyes Frau und seine Kinder im Ausland. Er selbst aber, der 1981 im westukrainischen Kolomiya geboren wurde, meldete sich beim heimischen Militärkommissariat, um sein Land mit der Waffe zu verteidigen - obwohl er immer geglaubt hatte, Pazifist zu sein. In seinem Debütroman steht ein Gedicht seiner Lieblingsfigur, das mit der Zeile beginnt: „Wenn ein Krieg kommt, werde ich Deserteur“. Doch unter den neuen Umständen gelangte Chapeye zu der Einsicht, dass das alles keine Relevanz mehr habe, „wenn man seine Kinder unter Bombenlärm weckt.“

Sein Text in der gerade veröffentlichten, von der Essayistin, Verlegerin und Übersetzerin Kateryna Mishchenko und der Suhrkamp-Lektorin Katharina Raabe herausgegebenen Anthologie „Aus dem Nebel des Krieges“ trägt die Überschrift „Wenn der Pazifismus endet“. Was auch bedeutet: Chapeye belässt es nicht bei dem Erzählen persönlicher Geschichten, bei der Schilderung seiner soldatischen Tätigkeit. Der Schriftsteller setzt sich mit dem Pazifismus auseinander, mit der Kriegsliteratur, mit der er aufgewachsen ist, von Remarque bis Hemingway, die natürlich immer als Antikriegsliteratur verstanden werden kann.

Empörende Propaganda

Oder er erwähnt seine Beobachtung, dass es in seinem Umfeld mehr Linke gab, die sich für den Kriegseinsatz gemeldet haben, als solche, die sich als „Patrioten“ bezeichnen. „Interessanterweise empört Propaganda umso mehr, je absurder sie ist“, schreibt Chapeye im Hinblick auf Putins Faschismusvorwurf, auf die russische Kriegsbegründung, die Ukraine „entnazifizieren“ zu wollen.

Es macht die Qualität dieser Anthologie aus, dass sie nahezu Text für Text eine Mischung aus persönlicher Betroffenheit und Analyse der Situation darstellt. Jedem der knapp zwanzig Texte von ukrainischen Journalistinnen, Schriftstellern, Wissenschaftlerinnen und Künstlern merkt man die Unmittelbarkeit des Schreibens an, den traumatisierenden Schock, unter dem sie entstanden sind. Trotzdem wird immer wieder der Versuch unternommen, das Kriegsgeschehen und wie es dazu kommen konnte zu interpretieren, die vielen Facetten des Krieges nüchtern und womöglich für sich selbst konstruktiv zu betrachten.

Die Situation der Ukraine erscheint in dieser Anthologie wie unter einem Brennglas. Hier die Kriegsgräuel, die Leichen auf den Straßen, die Bombardierungen, auch eine Fotostrecke mit den Zerstörungen enthält der Band, und dort wiederum die Analyse der russischen Propaganda oder der Macht der Bilder, oder wie es sich mit den Verbindungen von Putin, der EU und der Ukraine aus der Perspektive ihrer Erinnerungskulturen verhält.

Die Antinomien des Krieges

Da ist zum Beispiel die Soziologin Oksana Dutchak, die mit ihren Söhnen nach der russischen Invasion in Leipzig Zuflucht fand. Vor dem Krieg hatte sie die auch nicht gerade hervorragenden Arbeitsbedingungen in kommunalen ukrainischen Kitas untersucht, wie sie schreibt. Nun setzt sie sich mit der Lage der vielen Millionen geflüchteten Frauen auseinander, mit ihren Erfahrungen mit der deutschen Bürokratie, mit den hiesigen Problemen der Kinderbetreuung, mit der in Deutschland oft ungenügenden Ausstattung der Schulen.

Oksana Dutchak weist daraufhin, dass das Provisorium länger dauert als gedacht, so wie der Krieg sich noch Jahre hin ziehen könnte. Die hiesige Integration ist das eine, das Heimweh das andere, die auf Jahre hinaus zerstörte Infrastruktur noch einmal eine ganz eigene Problematik.

Kann Feminismus helfen?

Nicht soziologisch, sondern ihrer Profession gemäß eher philosophisch widmet sich die Kultur- und Wissenschaftstheoretikerin und Chefredakteurin des Charkiwer „Gender Studies Journal“ Irina Zherebkina den „Antinomien des Krieges“. Sie liest mit ihren Studenten und Studentinnen Texte von Habermas und Zizek, die beide um die diskursiv-praktische Unauflösbarkeit des Ganzen wissen, um die anstehende „unmögliche Entscheidung“: kein Kompromiss mit Russland hier, die Gefahr eines neuen, womöglich atomar geführten Weltkriegs dort. Zherebkina diskutiert, wie bedingungslos der Widerstand gegen die Russen zu sein hat und fragt sich, ob das Postulat von Clausewitz, dass nur der den Krieg gewinnt, der entschlossener und effektiver Gewalt anwendet, wirklich das Nonplusultra sei.

Oder soll man es nicht am besten mit Judith Butler und ihrer „antimilitaristischen feministischen Mobilisierung“ halten, mit feministischer Gewaltkritik? „Bietet der Feminismus eine Alternative?“ fragt Zherebkina zusammen mit ihren Studierenden, etwas ratlos, eher ungläubig. Und schließt daran die nächste Frage an, ob es darauf überhaupt eine Antwort geben kann, „während russische Raketen und Bomben mein Land und meine Stadt zerstören?“

Dass man sich dem russischen Einfluss entziehen kann und muss, das wiederum erörtert die Literaturwissenschaftlerin Tamara Hundorova in ihrem Text über die „Provinzialisierung des Russischen“, über das kolonialistische Verhaltens Russlands auf der einen Seite, die notwendige Dekolonisierung auf der anderen. Letztere sei immer auch eine sprachliche Dekolonisierung. Hundorova nennt die in Donezk im Donbas geborene Lyrikerin Ija Kiva als Beispiel, deren Muttersprache Russisch ist und die sich von dieser losgesagt, gewissermaßen Matrizid begangen hat.

Russland provinzialisieren

Oder sie führt den Schriftsteller Volodymyr Rafeyenko an, der wie Kiva ebenfalls aus Donezk stammt. Rafeyenko hatte ausschließlich auf Russisch geschrieben, war ein anerkannter und sehr erfolgreicher Autor auch in Russland, und konnte, wie er selbst einmal bekannte, bis zum Jahr 2014 Ukrainisch weder sprechen noch schreiben: „Ich sah diesen Krieg als meinen eigenen an und beschloss Ukrainisch zu lernen und einen Roman in dieser Sprache zu schreiben.“, zitiert ihn Tamara Hundorova und diskutiert im Anschluss die Schwierigkeiten dieser sprachlichen Dekolonisierung, die intermediären Zustände von Zweisprachigkeit, Aneignung und Hybridität.

Ich sah diesen Krieg als meinen eigenen an und beschloss Ukrainisch zu lernen und einen Roman in dieser Sprache zu schreiben.

Der ukrainische Schriftsteller Volodymyr Rafeyenko

Volodymyr Rafeyenko selbst ist ebenfalls in diesem Band vertreten, mit einem eher erschütternden Beitrag. Ihm geht es dabei nicht um eine Diskussion seines Sprachwechsels, den erwähnt er nur im Zusammenhang mit seiner Flucht aus Donezk. Diese fand schon im Sommer 2014 statt, als Russland begann, den Donbas militärisch und gesellschaftlich zu infiltrieren.

Überall fremd und überflüssig

Rafeyenko erzählt, wie es sich 2014 anfühlte und wie im Februar und März 2022, als er in seinem Haus in der Nähe von Kiew mehr und mehr von den russischen Truppen umzingelt wurde und unter glücklichsten Umständen gerade noch so ins rettende Kiew gelangte. Und er erwähnt fast beiläufig, keine Bücher mehr zu kaufen, weil er in seinem Leben nun schon zweimal Bibliotheken zurücklassen musste und grundsätzlich sein Leben nicht mehr plane: „Überall fühle ich mich fremd und überflüssig.“

Überholte Gewissheiten

Nicht nur für Volodymyr Rafeyenko begann die Entwurzelung 2014: Viele der Texte erwähnen den Maidan, die Einnahme der Krim durch die Russen, den jahrelangen Krieg in der Ostukraine. Zum Beispiel die Journalistin Angelina Kariakina, die 2019 erstmals in Mariupol war, der Stadt, die sich schon in den Jahren 2014 und 2015 erfolgreich gewehrt hatte, das 2022 wieder versuchte, aber inzwischen fast vom Erdboden verschwunden ist. Trotzdem will sie von Mariupol als „Stadt der Hoffnung“ nicht lassen. Stanislaw Assejew wiederum berichtete 2015 aus dem besetzten Donbass als Journalist und war im Anschluss daran zwei Jahre in russischer Lagerhaft, wo er gefoltert wurde.

Im Krieg mit Russland befanden sich seit 2014 schon viele Ukrainer und Ukrainerinnen, nur wollte davon in Europa niemand etwas wissen. Um es mit dem Osteuropa-Experten Karl Schlögel zu sagen, der auch einen Beitrag geschrieben hat: Die Ukraine sei für die meisten Deutschen „Fly-over-Land“ gewesen; alles, was sich dort abspielte, war für sie mit den Worten von Jürgen Habermas nur eine verspätete „nachholende Revolution“.

Von „überholten Gewissheiten“ spricht Schlögel nun, gerade was die Deutschen anbetrifft, vom Krieg als „großen Lehrmeister“. Das aber ist auch dieser Band, mit ihm lässt sich die Ukraine noch einmal besser verstehen. Er erzählt nicht nur die Geschichten dieses Krieges, sondern auch seine Vorgeschichten und warum die Ukraine gar keine andere Wahl hat, als sich so unbedingt und kompromisslos gegen die Invasion Russlands zu wehren.

Dass dieser Krieg, wenn er denn einmal ein Ende gefunden haben sollte, gleich mehrere Generationen in der Ukraine beschäftigt und sie traumatisiert haben wird, ja, seine Folgen für die Psyche noch gar nicht abzusehen sind, auch das ahnt man nach der Lektüre von „Aus dem Nebel des Krieges“.   

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