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Marjan Pyrig im Schriftstellerhaus Slowo.

© Yuriy Gurzhy

Ukrainisches Kriegstagebuch (126): Als alle meine Erinnerungen düster wurden

Der ukrainische Autor, DJ und Musiker Yuriy Gurzhy lebt seit 1995 in Berlin. Hier schreibt er über den Krieg in der Ukraine.

Eine Kolumne von Yuriy Gurzhy

Irgendwo könnte ich bestimmt nachschauen, wie alt mein Facebook-Profil ist, doch dafür bin ich zu faul. Es existiert auf jeden Fall schon ziemlich lang, das kann ich auch an den Erinnerungen erkennen, die mir immer wieder angezeigt werden. Mit ihrer Hilfe erfahre ich regelmäßig, was ich an diesem Tag in den vergangenen Jahren getrieben habe.

Mein Gedächtnis ist ein Durcheinander, also bin ich für diese Funktion sehr dankbar – ohne sie wäre ich wahrscheinlich nicht drauf gekommen, dass heute vor fünf Jahren meine Band in Ilmenau gespielt hat. Oder, dass ich am 14. April 2012 in Warschau auflegte. Mehrere Bands, Clubs, Städte und Länder, schöne Menschen, wilde Konzertszenen, bunte Plattencover – laut den meisten Erinnerungen in meinem Feed sah mein Leben eine Zeitlang so aus.

Aber alles ab dem 24. Februar 2022, woran mich Facebook erinnern möchte, ist düster und unendlich traurig. Zerstörung, noch mehr Zerstörung, Tod. Spendenaufrufe, Soli-Veranstaltungen. Orte, die es nicht mehr gibt. Menschen, die es nicht mehr gibt.

Noch Ende Februar 2022 glaubten die meisten von uns, der Wahnsinn würde bald vorbei sein, weil es sonst einfach unvorstellbar und unerträglich gewesen wäre. Aber der Wahnsinn hat nicht aufgehört.

Ich könnte fast sagen, wir haben uns an die Grausamkeit gewöhnt. Nicht an alles vielleicht, aber doch an vieles. Und dennoch heißt das nicht, dass es weniger weh tut. Aber den Ausdruck „ich hätte es mir nie im Leben vorstellen können“ verwenden wir wesentlich seltener als früher – inzwischen können wir uns einiges vorstellen. Leider.

Tägliche Bombenanschläge aus einem Nachbarland, dessen Sprache einige von uns Muttersprache nannten, von dort, wo viele Freunde und Verwandte hatten. Das ist kein Alptraum, sondern die neue Realität. Zerbombte Wohn- und Krankenhäuser, vergewaltigte Frauen und Kinder, abgeschnittene Genitalien und Köpfe – so agieren die Vertreter des Brudervolkes, wie sie sich selbst gern bezeichnen. Klassenkameraden an der Front, geflüchtete Verwandte. Das Schlimmste überhaupt: Eltern, die ihre Kinder verlieren.

Die Erinnerungen vom letzten Jahr bringen kaum Freude mit sich. Für solche Fälle gibt es bei Facebook einen „Erinnerungen verbergen“-Knopf, doch ich will auf alles zurückblicken können…

Und dann sehe ich Bilder der Lwiwer Band Pyrig I Batig in meiner Heimatstadt Charkiw und fühle mich etwas besser. Eines davon zeigt Marjan Pyrig auf dem Balkon der Literaturresidenz im Schriftstellerhaus Slowo. An diesem Ort verbrachte ich 2021 einige unvergessliche Tage, zusammen mit Serhij Zhadan haben wir dort die Songs für unser Album „Fosktroty“ geschrieben und geprobt. Eine bessere Kulisse dafür könnte man sich nicht vorstellen, denn so gut wie alle Autoren, deren Texte wir vertont haben, wohnten in diesem Haus.

Auch Marjan lässt sich von ihren Gedichten inspirieren – die Mehrheit seiner Lieder sind Vertonungen der Werke ukrainischer Dichter der Vergangenheit. In Charkiw präsentiert er und seine Musikerkollegen das Programm „Vom russen zum Tode gefoltert“ – der Titel ist keine Metapher, sondern ein Hinweis auf die hingerichtete Renaissance, eine ganze Generation der ukrainischen Literaten, die in den 1930ern ausgelöscht wurde.

Lesik Omodada, ein Ausnahmemusiker und Tonmeister aus Ternopil, der das „Fokstroty“-Album gemischt und gemastert hat, ist heute bei Pyrig I Batig dabei und ist fürs Schlagzeug zuständig. Auch ihn sehe ich auf den Fotos auf der Facebook-Seite der Band. Abends treten sie in DK ArtArea auf, wo im vergangen Dezember Zhadan und ich gespielt haben. Ich hätte mir gewünscht, bei diesem Konzert heute dabei zu sein.

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