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Russische Raketen, die von der russischen Region Belgorod aus auf die Ukraine abgefeuert werden, sind in der Morgendämmerung in Charkiw zu sehen.

© dpa/Vadim Belikov

Ukrainisches Kriegstagebuch (137): Nastia macht keine Pläne mehr

Der ukrainische Autor, DJ und Musiker Yuriy Gurzhy lebt seit 1995 in Berlin. Hier schreibt er über den Krieg in der Ukraine.

Eine Kolumne von Yuriy Gurzhy

19-20.5.2023
Während der Perestroika-Ära lauschte ich Andreys Radiosendungen. Die Musik aus dem Westen war nicht mehr verboten, aber uns jungen Rock‘n’Roll-Fans fehlten immer noch die Informationsquellen – und die Sendung füllte diese Lücke zumindest teilweise.

Zwei Jahrzehnte später haben wir uns auf Facebook kennengelernt, kaum zu glauben, aber Andrey kannte sogar meine Band! 2013 kam er zu unserem ersten (und auch letzten, was wir damals nicht wissen konnten) Konzert in Moskau, seitdem blieben wir in sporadischem Kontakt. Er ist einer der ganz wenigen russen, mit denen ich in den letzten Monaten noch gelegentlich spreche.

Im Gegensatz zur Mehrheit seiner Landsleute nennt er Dinge beim Namen, ihm ist bewusst, dass sein Land einen brutalen Krieg führt. Er kennt viele ukrainische Musiker, einige von ihnen sind seine Freunde. Ich spüre, wie furchtbar weh ihm das Ganze tut. Als ich in Leipzig war, schrieb er mir, dass sein Sohn Anton gerade nach Berlin gezogen ist und fragte, ob ich mich mit ihm vielleicht treffen könnte.

Am Freitagabend saß ich im Zug und schwelgte in Erinnerungen an einen Abend in Charkiw vor zwölf Jahren, als mir plötzlich klar wurde, dass in meiner Heimatstadt eine neue Generation aufgewachsen war. Irgendwie ist es nie ein Thema gewesen, meine Freunde und ich waren immer die jüngsten, so lange ich zurückdenken konnte… und dann bekam ich eine Einladung, beim Konzert einer mir unbekannten Band mitzumachen, bei der einige Musiker*innen jung genug waren, um meine Kinder sein zu können.

Sie waren richtig cool, so wie auch ihr Sound, und sie kannten sich mit der Musik aus und gaben mir sogar Tipps, was ich mir unbedingt anhören soll…. verrückt! Ich denke an diesen Auftritt und an den Beitrag in meinem Facebook-Feed, den ich heute sah, wo es um den Tod eines Mitglieds dieser Band ging. Er ist nicht der Erste, ein anderer ist bereits vor einem Monat gefallen.

In Berlin angekommen, eile ich zum Deutschen Theater, wo ich heute in den Popsalon eingeladen bin. Was für eine Ehre, mit Jens Balzer und Tobi Müller die Bühne zu teilen! Eineinhalb Stunden unterhalten wir uns, ich erzähle über mein Album „Fokstroty“ und die ukrainische Literaturgeschichte des 20. Jahrhunderts, über die neueste Platte von Jamala, die Lieder ihrer Heimat Krim mit einem Orchester eingesungen hat. Am Ende dieses tollen Abends, auf dem Weg nach Hause in der S-Bahn, schreibe ich Anton und entdecke eine Nachricht von Nastia, der 18-jährigen Tochter eines Freundes aus Charkiw, die übers Wochenende hier ist. Wir verabreden uns für den Samstag.

Alles in der Wohnung war wie im Februar 2022

Nastia kehrt über Berlin nach München zurück, sie war gerade in Charkiw – zum ersten Mal seit Februar 2022. Sie hat am 26. mit ihrer Mutter die Stadt verlassen, während der Vater bei seinen kranken Eltern bleiben musste. Nastia und die Mutter kamen in München unter. Ich fragte sie, wie sie die Heimatstadt empfand. „Also, ich hatte nicht das Gefühl, dass ich weg war“, erzählte sie, „zu Hause ist alles genau so geblieben wie am letzten Tag – meine Klamotten auf dem Stuhl, das Buch unter dem Bett, was ich gelesen habe. Die ersten fünf Stunden waren toll, ich dachte, ich ziehe wieder zurück, doch dann hörte ich den Luftalarm.”

Ich frage, was sie in den nächsten Monaten vorhat, ob sie in München bleiben oder zum Herbstsemester vielleicht doch nach Charkiw zurückkehren möchte. Mit einem Lächeln sagt sie, dass sie seit dem Februar 2022 keine Pläne mehr schmiedet, es macht eh keinen Sinn.

Mit Anton, der ein Zimmer in Prenzlauer Berg gemietet hat, gehe ich spazieren. Wenn er sein Leben in Moskau beschreibt, fällt mir auf, dass er oft „vor dem Krieg“ sagt und damit offensichtlich 2022, nicht 2014 meint. „Nach der Krimannexion war mir eh klar, dass ich wegmusste, aber mir mangelte es an Geld. Als der Krieg ausgebrochen ist, war es kein Thema mehr, ich bin einfach geflohen.”

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