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Viktor and Sergiy Kochetov, “Hardworking Women, Builders of Communism, Diligently Sorting Harvest and Having No Clue There are Beautiful Clouds Above Them”, 1978 (coloured 1980s-1990s), gelatin silver print, hand-coloured, 30×40 cm. Collection of the Museum of the Kharkiv School of Photography, Kharkiv, Ukraine

© Viktor and Sergiy Kochetov/Collection of the Museum of the Kharkiv School of Photography, Kharkiv, Ukraine

Ukrainisches Kriegstagebuch (195): Fotokunst aus Charkiw in der Kommunalen Galerie Berlin

Der ukrainische Autor, DJ und Musiker Yuriy Gurzhy lebt seit 1995 in Berlin. Hier schreibt er über den Krieg in der Ukraine.

Eine Kolumne von Yuriy Gurzhy

5.3.2024
In meinen frühen Jahren in Berlin war es für mich zur Gewohnheit geworden, den Namen meiner Heimatstadt zu buchstabieren, wenn ich mich vorstellte. Die meisten hatten noch nie von Charkiw gehört, waren aber fest davon überzeugt, dass die Ukraine seit eh und je ein Teil von russland gewesen sei. Mit zunehmender Beherrschung der deutschen Sprache wurden meine improvisierten landeskundlichen Vorträge immer ausführlicher.

Nie werde ich vergessen, wie ich um 1999 statt der typischen Antwort „Ach, du bist russe“ plötzlich hörte: „Ach, Charkiw, du kommst aus derselben Stadt wie Boris Mikhailov!“ Zwar stimmte ich zu, doch war es mir unendlich peinlich, diesen Namen zum ersten Mal zu hören. Im Zeitalter der Smartphones hätte ich ihn sofort googeln können, aber damals vergingen Wochen, bis ich in einem exquisiten Buchladen in der Gormannstraße auf ein Fotoalbum von Boris Mikhailov stieß.

Aus dem Vorwort erfuhr ich, dass mein herausragender Landsmann einer der bedeutendsten Fotografen des postsowjetischen Raums ist und zur Charkiwer Schule der Fotografie gehört – eine weitere Wissenslücke meinerseits. Daran erinnere ich mich heute, 25 Jahre später, als ich mit der S42 zur Ausstellungseröffnung „Ukrainian Dreamers“ in die Kommunale Galerie fahre.

Drei Generationen der Charkiwer Schule

Mein Gedankenfluss wird von einem älteren Herrn unterbrochen, der mir gegenüber sitzt. Mit seinem grauen Hufeisen-Schnurrbart, der schwarzen Lederhose und der Lederjacke könnte er als Bassist einer Hardrock-Band aus den Siebzigern durchgehen.

Er klagt über starke Herzschmerzen und erzählt mir, dass das Leben mit 82 Jahren kaum noch Spaß mache. Ich entgegne, man sehe ihm sein Alter nicht an, woraufhin er sofort seinen Personalausweis herausholt. Tatsächlich: Er ist Jahrgang 1942. Auch sein Vorname fällt mir auf – Immanuel Adolf. Ich vermute, dass Adolf zu dieser Zeit ein recht gebräuchlicher Name war.

Wir steigen beide am Hohenzollerndamm aus, gehen noch ein Stück gemeinsam, in einem Adolf-gerechten Tempo, und verabschieden uns schließlich an der Ecke Seesener Straße.

Obwohl ich mir Ausstellungen am liebsten allein und in völliger Stille ansehe, freue ich mich über die vielen Menschen, die heute Abend in die Galerie gekommen sind. Viele kenne ich persönlich und bin erfreut, sie wiederzusehen, aber noch mehr freue ich mich über die Unbekannten und ihr Interesse an diesem Thema.

Drei Generationen der Charkiwer Schule sind heute hier vertreten: Boris Mikhailov, Sergiy Bratkov und Roman Pyatkovka sind da, ebenso wie Igor Manko und Mykola Ridnyi. Mittlerweile sind sie alle in Deutschland. Ich plaudere mit der Leiterin der Berliner Filiale des Ukrainischen Instituts Kateryna Rietz-Rakul – vor vielen Jahren waren wir sogar Mitglieder derselben Band, doch heutzutage sehen wir uns viel zu selten.

Unser Gespräch zieht zunehmend mehr Menschen an. Darunter ist Sergiy Lebedynskyy, ein Fotograf aus Charkiw und Kurator der heutigen Ausstellung. Er fungiert auch als Direktor des MOKSOP – Museum Of Kharkiv School Of Photography, dessen Sammlungsbestände 2022 nach dem Beginn der Großinvasion russlands nach Deutschland evakuiert wurden. „Man sollte in Berlin endlich ein Charkiwer Fotomuseum eröffnen, meint ihr nicht?“, sagt er und lächelt: „Meine Wohnung platzt bald aus allen Nähten, sie ist längst zu klein für all die Exponate!”

In den Ausstellungsräumen wimmelt es von Menschen, die ukrainisch, russisch, deutsch und englisch sprechen. Kein Zweifel, die Fotografen aus Charkiw sind in Berlin angekommen – allerdings hätte ich es mir unter anderen Umständen gewünscht.

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