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Zeit zum Trauern. Barbara Raes Projekt "Unacknowledged Loss" am HAU

© Marco Barbieri

„Unacknowledged Loss“ am HAU: Luft holen

Verluste, Abschiede, Rituale: Barbara Raes interdisziplinäres Projekt „Unacknowledged Loss“ untersucht am HAU künstlerische Formen der Trauerarbeit.

Das Probeliegen im Sarg war für alle Beteiligten eine angenehme Erfahrung. Barbara Raes, eigentlich eher klaustrophobisch veranlagt, beschreibt das Gefühl in der samtenen Kiste als „geräumig und friedvoll“. Nicht anders erging es den acht Künstlerinnen und Künstlern, mit denen zusammen sie die Exkursion zu jenem Bestatter unternommen hatte, der freundlicherweise den prämortalen Komforttest anbot. Alles als Teil der „Schule des Todes“, wie Raes diesen Abschnitt ihrer kollektiven Recherche nennt.

Was die Niederländerin seit drei Wochen am HAU unternimmt, ist kein Selbstfindungstrip für morbid Veranlagte. Sondern ein Projekt mit dem Titel „Unacknowledged Loss“, das in die schmerzhaftesten Bereiche unserer Existenz vordringt. Es geht um Verluste und Abschiede, für die uns oft die Formen des Umgangs fehlen, weil die Gesellschaft eher auf Verdrängen programmiert ist.

Barbara Raes hat zu diesem Thema durch eigene Erfahrungen gefunden. Bereits mit 22 war sie eine erfolgreiche Tanzkuratorin im Genter Vooruit, später wurde sie als Künstlerische Leiterin ins belgische Kortrijk berufen, schließlich ging sie zurück nach Gent. Eine makellose Karriere mit dem dazugehörigen Dauerdruck des Projekt-Outputs. Was genau so lange gut geht, wie sich daraus Energie ziehen lässt.

Nach dem Burn-out kamen die Trauerfeiern

„Klar kritisieren alle Theater gern das neoliberale System“, sagt Raes. „Aber sie funktionieren nach denselben Prinzipien“. Ihr Versuch, nachhaltigere Strukturen mit mehr Solidarität zu etablieren, scheiterte. Raes erlitt einen Burn-out, sprach zwei Wochen kein Wort. Das Problem, befindet sie heute, sei die Privatisierung der Krankheit. „Es heißt dann: Du wusstest nicht, wo deine Grenzen sind. Es ist aber kein individuelles Problem, sondern ein gesellschaftliches“.

Was folgte, nennt die Kuratorin ihre Übergangsphase. Sie ging nach England und lernte dort, Trauerfeiern auszurichten. „Ich wollte alles über das Abschiednehmen erfahren“, sagt sie. Was Raes daraus zog, war nicht zuletzt die Erkenntnis, wie wichtig Rituale sind, um sich dem Schmerz und dem Verlust zu stellen. Um sie anzuerkennen als Stufen des Übergangs. Mittlerweile hat sie sich solche Rituale zur Lebensaufgabe gemacht. Sie erprobt sie in Amsterdam mit Studenten im Rahmen eines interdisziplinären Projekts. Und sie hat eine Organisation gegründet, die sich „beyond the spoken“ nennt, im Untertitel: „workspace for unacknowledged loss“.

Abschied von einstelligen Zahlen

Es kommen sehr verschiedene Menschen zu ihr, die Hilfe brauchen beim Abschiednehmen. Raes hat eine Frau begleitet, der eine Brustamputation bevorstand. Oder eine Mutter, die sich nicht von ihrem Kind trennen konnte, als sie wieder arbeiten ging. Aber auch spielerische Anlässe sind willkommen. Raes zeigt auf ihrer Homepage Bilder vom Ritual für ein Mädchen, das 10 Jahre alt wurde und Abschied nehmen musste von den einstelligen Zahlen im Leben.

Raes gibt zu, dass sie gezögert hat, als die Anfrage von Annemie Vanackere kam, „Unacknowledged Loss“ am HAU zu entwickeln. Ihre Angst war, dass sie sich wieder vereinnahmen lassen könnte vom Theaterbetrieb. Allerdings ist Raes zu der Erkenntnis gelangt, dass sie das Kuratieren nun mal liebt „und nicht der Job mich vergiftet hat, sondern das System“. Und bei Vanackere kann sie sich zudem darauf verlassen, „dass ihr das Projekt wirklich am Herzen liegt“.

Das Projekt stand nie unter Ergebnisdruck

Das HAU finanziert „Unacknowledged Loss“ aus Mitteln, die das BKM einem Netzwerk freier Produktionshäuser zur Verfügung gestellt hat. Für gemeinsame Vorhaben und ungewöhnliche Einzelprojekte. Künstlerinnen und Künstler wie Nathalie Bikoro, Claudia Hill, Maria Scaroni oder Oliver Zahn haben sich also Zeit nehmen können, um mit Barbara Raes über Trauer zu reden, über Friedhöfe zu wandern, an Ritualen für die eigenen Abschiede zu arbeiten. Zum Abschluss gibt es eine Präsentation, aber das Projekt stand nie unter Ergebnisdruck.

„Diese Momente des Luftholens“, findet Vanackere, seien unerlässlich für die künstlerische Arbeit und stünden fälschlich unter Luxusverdacht. Sie bedauert, dass Recherchen und Residenzen immer weniger gefördert würden. Bloß weil manchmal das Ergebnis erst später sichtbar sei. Zeit, sagt auch Barbara Raes, müssen wir uns gestatten. Vor allem denen, die einen Verlust erlitten haben. „Trauer braucht Zeit.“

HAU 3, 2. Juni, 19 Uhr

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