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Unwirkliche Wirklichkeitsreste. Auch der Münchner Modedesigner und seine Terrier-Hündin Daisy haben bei Marcel Beyer ihren Auftritt.

© Volker Dornweber/DPA/DPAWEB

Neue Gedichte des Büchner-Preisträgers: Unbemerkt und ungeimpft

Der Dichter Marcel Beyer wirft mit "Dämonenräumdienst" die große Wörterzentrifuge an.

Von Gregor Dotzauer

Keine tollkühneren ersten Sätze als die von Marcel Beyer. „Mein Daumenabdruck steckt in / einer schweren Krise“, bekennt er in seinem neuen Gedichtband „Dämonenräumdienst“. Oder: „In meiner Hasenzeit habe ich so häufig / mit Joseph Beuys geschlafen“. Oder: „Der Dichter arbeitet als Reh im / Innendienst“. Oder mit Gruß an Paul Celan: „Der Tod ist ein Arschloch aus Strehlen“. Wer da erst einmal Bahnhof versteht, hat völlig recht. Anschließend wird es nur nicht unbedingt besser. Wie heißt es programmatisch in einem anderen ersten Satz? „Ich brauche morgens viel zu lange, / bis ich mich fremdgeschrieben / habe“. Vielleicht lohnt es sich angesichts von so viel Fremdheit, mit dem bloßen Staunen anzufangen.

Auch mit einer Portion Angstlust kommt man weiter als mit dem krampfhaften Versuch, den Schlüssel zu dieser Welt des Zwielichts zu finden. „Dunkelheitsattacken / lugen Dunkelheitsreserven an“, steht da warnend. Und so tastet man sich eher blind als sehend durch die Kabinette des Absonderlichen hindurch, die der Büchner-Preisträger hier aufgestellt hat.

Freirhythmische Texte im Einheitsformat von zehn mal vier Zeilen, die sich über 160 Seiten hinweg eingeweckt wie die Formaldehyd-Präparate im medizinhistorischen Museum der Charité aneinanderreihen, nur dass es hier im Inneren noch leise zuckt und zittert. Sprachliche Mischwesen werden hier aufbewahrt, Wortmissbildungen, formvollendet deformierte Fügungen: „Ich zerstöre / noch ein Gedicht und mache / für heute Feierabend.“

[Marcel Beyer: Dämonenräumdienst. Gedichte. Suhrkamp Verlag, Berlin 2020. 169 Seiten, 23 €.]

Dichtung bewegt sich seit jeher zwischen den Polen des Erlebten und des Gedachten, eines Wirklichkeit nachbildenden und eines Wirklichkeit erzeugenden Schreibens. Wenn sich der Magnetismus seit Mitte des 19. Jahrhunderts immer mehr in Richtung textlicher Autonomie verschoben hat und in den lautpoetischen Avantgarden des 20. Jahrhunderts seinen Höhepunkt fand, so ist das eine doch nie ganz ohne das andere zu haben.

Niemand kann sich ganz fremd werden

Es gibt kein in Wörtern und Sätzen organisiertes Schreiben, das nicht auf bestehende Lexika zurückgreifen müsste. Und niemand kann sich dabei so fremd werden, dass sich darin nicht winzige Reflexe des eigenen Lebens und der eigenen Zeit finden würden.

So stolpert man auch in Marcel Beyers Gedichten, die sich mit aller Macht in ein jenseitiges Buchstabenland begeben wollen, in dem nichts herrschen soll als das Gesetz der Schrift, über Wirklichkeitsreste, auch wenn diese bloßes Spielmaterial einer ersten Personal Singular sind, die sich als fest umrissenes Ich nicht mehr versteht. Im Wechsel von Hoch- und Popkultur melden sich hier Johnny Cash, Elvis Presley und Brian Eno zu Wort, Céline Dion und Billie Holiday. Helden und Heldinnen aus Beyers persönlichem Universum, die diesen Gedichten Farbe verleihen.

Auch der von einem Strichjungen schmählich erdrosselte Münchner Modedesigner Rudolph Moshammer („ein Wort wie Baggerblut“) und sein Yorkshire-Terrier Daisy haben einen Auftritt. Figuren, von denen man, da sie als bloßer Name vorkommen, eine bildliche Vorstellung haben muss, damit sie die ihnen zugewiesene Wirkung erzielen. Dennoch sind auch sie nur Bedeutungsgischt im großen Signifikantenrauschen.

Marcel Beyer, den seine Essays und Romane als wachen, auch durchaus politisch hellhörigen Zeitgenossen ausweisen, richtet seine ganze Neugier auf die Prozesse, in denen Sprache sich selber fortzeugt, in denen sie gutartig und bösartig vor sich hinwuchert und alles Gegenständliche verschlingt.

Der Schädel, durch den Sprache hindurch muss

Das ist natürlich kein völlig unbewusster Vorgang. Der Schriftsteller stellt immerhin den Schädel zur Verfügung, durch den Sprache hindurch muss, bevor sie ihr Eigenleben entfaltet. Aber als kontrollierende Instanz nimmt er sich so weit wie möglich zurück und rückt stattdessen in die Rolle des musikalischen Direktors, der mit grimmigem Humor beobachtet, was ihm aus den Fingern quillt.

„Ich sah der Metaphernanrichte in / ihre Eingeweide“, schreibt er und entdeckt, wie „die Sprache ein Bäuerchen macht“. Mit kühlem internistischen Blick nimmt sich Beyer dieses linguistischen Verdauungstrakts an, im Wissen, dass es von dort aus nur noch tiefer ins Bodenlose geht, wo jeder Sinn zerstiebt, oder zurück in die trügerische Sicherheit eines festen sprachlichen Grunds.

Bei alledem wird hemmungslos zitiert, paraphrasiert, verwurstet und gegen den Strich gebürstet. Mit Evergreens wie dem Proust’schen „Eines Tages werde ich sehr früh / aufstehen“, aber auch mit Raritäten wie „Coleridge, in Köhln“, der Überschreibung einer Köln-Erinnerung, die der englische Romantiker 1838 während einer Deutschlandreise festhielt: „In Köln, a town of monks and bones, / And pavements fang’d with murderous stones / And rags, and hags, and hideous wenches; / I counted two and seventy stenches, / All well defined, and several stinks!“

Bei Beyer beginnt das so: „In Köln, einer Stadt der Knochen / und Kutten, mit Kopfsteinpflaster / zum Schädelknacken und / Möhnen und Ollen und hässlichen // Putten, da roch es, als wären alle / am Backen. Samuel Taylor / Coleridge zählte zweiundsiebzig / Miefe, und jeder ausgeprägt, jeder / ein unvergleichlicher Gestank.“

Schattenküche und Schamanenküche

Eine ganze Weile ist das ein großes Vergnügen, weil es von einer Überraschung zur nächsten führt, bis sich in dieser stab- und schüttelreimenden Wörterzentrifuge durch die pure Textmasse der in vier Abteilungen und einen Zyklus gegliederte Sammlung eine ermüdende Mechanik einstellt. Da wird aus der Schattenküche erst die Schamanenküche, dann die Schlammküche, die Schamküche und schließlich die Wahnküche: ein viele Gedichte bestimmendes Verfahren der geradezu algorithmisch nachstellbaren Metamorphose.

In seiner mal mehr, mal weniger herrlichen Albernheit grenzt das manchmal an die humoristischen Exerzitien von Max Goldt. „Ich möchte hastig schreiben, / unterkühlt und lichterloh, / unbemerkt und ungeimpft“, heißt es bei Beyer. Nicht nur des Vokalstands wegen ist das nah an Goldts „Ungeduscht, geduzt und ausgebuht“. Trotzdem hat fast jeder einzelne von Beyers Texten eine Dichte, die in den übervölkerten Breiten der zeitgenössischen Lyrik nur die Wenigsten herzustellen vermögen.

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