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Eigensinn und Aufruhr. Auf dem Maidan – Platz der Unabhängigkeit –, dem Hauptplatz von Kiew, türmen sich im April 2014 Barrikaden aus Autoreifen, angemalt in den ukrainischen Nationalfarben Blau und Gelb.

© Peter Klaunzer/picture alliance/dpa

Russland und Ukraine: Ungleiche Brüder, eigenständige Nationen

Längst fällig: Der Osteuropa-Experte Andreas Kappeler erzählt in seinem Buch "Ungleiche Brüder" die Geschichte der Beziehung zwischen Russland und der Ukraine vom Mittelalter bis in die Gegenwart.

Wenn es um Russland geht, scheinen alle – auch der gehobene Stammtisch – Bescheid zu wissen. Wer hat nicht schon von der „russischen Seele“ gehört! Ganz anders, wenn es um die Ukraine geht. In Zeiten, da andere Krisen – Flüchtlingskrise, Krieg in Syrien, Spannungen in Korea – alle Aufmerksamkeit beanspruchen, scheint die Ukraine wieder an den Rand der Wahrnehmung gerutscht, obwohl dort – nur zwei Flugstunden von Berlin – der von Russland am Laufen gehaltene Krieg anhält; ihm sind inzwischen 10 000 Menschen, zwei Millionen Flüchtlinge und eine ganze Industrieregion zum Opfer gefallen. Die Ukraine, die seit ihrer Unabhängigkeit, besonders aber seit der Revolution auf dem Maidan, einen festen Platz auf der mentalen Karte der Deutschen gefunden hatte, scheint wieder in den Schatten Russlands zurückzufallen.

Ein Buch, das die Beziehungen zwischen Russen und der Ukrainern, aber auch die Asymmetrie der Wahrnehmung beider Völker besonders in Deutschland zum Gegenstand hat, kommt daher zum rechten Augenblick, ja, es war längst fällig. Sein Autor ist Andreas Kappeler, der Schweizer Historiker und emeritierte Professor für Osteuropäische Geschichte an der Universität Wien, ausgewiesen als einer der besten der ohnehin nicht zahlreichen Kenner sowohl Russlands als auch der Ukraine, also jemand, der mit beiden Seiten wissenschaftlich und durch lebenslange eigene Erfahrung vertraut ist. Seine Darstellung Russlands als Vielvölkerreich ist ein Standardwerk, seine Geschichten der Ukraine und der Kosaken – auch hat er dem Volk der Tschuwaschen eine Monografie gewidmet – sind Pflichtlektüre für alle, die sich kundig machen wollen; auch Talkshow-Moderatoren und Gäste. Nun also seine Geschichte der Wechselbeziehungen zwischen Russen und Ukrainern.

Es ist zutreffend, dass beide Völker – wie auch die Weißrussen – ihren Ursprung in der Kiewer Rus des Mittelalters haben, doch die Geschichte lief nicht nur – wie im russischen Narrativ behauptet – auf Russland hinaus. Im Laufe eines Jahrtausends sind sie, nachdem die Rus zerbrochen war, über weite Strecken „getrennte Wege“ gegangen, die zur jeweiligen sprachlichen und kulturellen Eigenart, zu unterschiedlichen Formen der Staatswerdung und der Nationsbildung geführt haben.

Während große Gebiete der alten Rus vom 13. Jahrhundert an unter die Herrschaft Litauens und Polens gerieten, vollzog sich die Herausbildung russischer Staatlichkeit im Einflussbereich des mongolisch-tatarischen Reiches. Mit dem einen war eine große Nähe zum lateinischen Westen gegeben – Stadtrecht, Humanismus, Renaissance –, beim anderen eher eine Entfremdung von Europa. Lange bevor Peter der Große die europäische Bühne betrat, war Kiew mit seiner Geistlichen Akademie die wichtigste Transferstation der Europäisierung Russlands, Kappeler spricht sogar von der „Ukrainisierung“ des Moskauer Reiches.

Im 18. Jhdt. macht Russland die ukrainische Selbstständigkeit zunichte

Einen Höhepunkt eigenständiger Entwicklung und die Anfänge ukrainischer Nationsbildung sieht Kappeler in dem aus dem großen antipolnischen Aufstand von 1648 hervorgegangenen Kosaken-Hetmanat; Kappeler nennt ihn „die größte Volksbewegung der Frühen Neuzeit in Europa“. Bis Ende des 18. Jahrhunderts war der Kosakenstaat, der eine unabhängige Position zwischen dem aufsteigenden Moskauer Reich und Polen-Litauen sucht, eine feste politische und kulturelle Größe auf der Karte Europas.

Das Hetmanat stand für die libertären Traditionen der polnisch-litauischen Adelsrepublik, für kosakische Freiheit und Selbständigkeit, für die Pluralität der religiösen Bekenntnisse, für lebhafte Beziehungen nach Westen, nicht zuletzt für einen eigenen Stil, den opulenten „Kosakenbarock“.

Erst mit dem Aufstieg Moskaus zu einer europäischen Macht im 18. Jahrhundert, mit der Zerstörung des Hetmanats unter Zarin Katharina der Großen, mit der Eroberung der Krim und der Aufteilung Polens werden die Selbstständigkeitsbestrebungen zunichte und entsteht das, was bis zum Ende des Russischen Imperiums als „Kleinrussland“ bezeichnet wurde. Die Ukrainer, der eigenen Staatlichkeit beraubt, sind nun in ihrem Selbstverständnis und in der Außenwahrnehmung für lange Zeit auf „das Volk“ zurückgeworfen, dem man zwar sympathische Züge zugesteht, nicht aber das Recht auf Eigenstaatlichkeit. Aber so, wie das Imperium die Nationsbildung der Ukrainer behinderte, so blockierte es auch die Herausbildung der Russen zu einer Nation von Staatsbürgern – beide also, wie Kappeler schreibt, „verspätete Nationen“ mit Folgen bis auf den heutigen Tag; denn auf das Ende des Russischen Reiches in der Revolution von 1917 folgte – im Unterschied zu Polen und den baltischen Staaten – nicht eine unabhängige Ukraine, sondern nach einem kurzen Intermezzo deren erzwungene Wiedereingliederung in das sowjetische Nachfolge-Imperium, das bis zum Ende im Jahre 1991 die Geschicke beider Völker bestimmte.

Auf und Ab von Integration und Repression

Wie sehr die imperiale Klammer sowohl die Entwicklung Russlands wie die der Ukraine zu modernen Nationen blockiert hat, zeigt sich auch im 20. Jahrhundert im Auf und Ab von Integration und Repression: eine Blüte der Sowjetukraine in den zwanziger Jahren und die Entstehung einer Art von Nationalkommunismus, dann die Vernichtung der nationalen Eliten in den Säuberungen der dreißiger Jahre und die Hungerkatastrophe des Holodomor als Folge der Kollektivierung. Kappeler sieht im Holodomor nicht nur die gegen die Bauernschaft, sondern auch eine gegen das ukrainische Volk gerichtete Komponente, ohne dass er die heute von der ukrainischen Führung propagierte Deutung als Genozid übernimmt. Im „Großen Vaterländischen Krieg“ machen die Ukrainer nicht nur Bekanntschaft mit dem deutschen Vernichtungskrieg, sondern auch mit Stalins Politik der verbrannten Erde und der Massendeportationen, besonders in der Westukraine.

In der Nachkriegs- und Wiederaufbauzeit oszilliert das Verhältnis zwischen Laisser-faire und Integration – vor allem der Partei- und Staatseliten – einerseits und Diskriminierung und Unterdrückung in der Kirchen- und Sprachenpolitik andererseits. Bei derart intensiven, in Millionen von Lebensgeschichten eingeschriebenen Beziehungen konnten kulturelle Neubildungen, besonders in den Kontaktzonen zwischen Russland und der Ukraine, nicht ausbleiben: eine Literatur, die beides in sich aufnimmt (etwa der in russischer Sprache schreibende ukrainische Schriftsteller Gogol/Hohol), eine frappierende Zweisprachigkeit des Landes (die man sich im einsprachigen Deutschland kaum vorzustellen vermag) und die Verarbeitung der lange geteilten, gemeinsamen Erfahrungen der „Brudervölker“ in der sowjetischen Welt, jedenfalls, was die ältere Generation angeht.

Diese unvergleichlich engen Beziehungen sind durch Putins Versuch, die Ukraine in die Knie zu zwingen, wahrscheinlich auf Generationen hin schwer beschädigt, ja zerstört worden. Der zweite Präsident der Ukraine, Leonid Kutschma, sagte 1995, also nach der Erringung der Unabhängigkeit: „Die Ukraine wollte eine gleichberechtigte Partnerschaft (...) Aber es gibt Kräfte in Russland, die nicht verstehen wollen, dass die Ukraine ein souveräner Staat ist. Das ist das Hauptproblem in unseren Beziehungen zu Russland.“

Kappelers Buch räumt auf mit Gemeinplätzen

Und so verhält es sich bis auf den heutigen Tag. Aus dem Land der „Kleinrussen“ von einst sind mittlerweile eine unabhängige Nation und ein souveräner Staat geworden. Das Verhalten des „großen Bruders“, zu dem auch Herablassung und Bevormundung gehören, hat den Reformprozess in der Ukraine dramatisch verkompliziert, aber er hat zugleich die Nationsbildung auf unerwartete Weise beschleunigt.

Andreas Kappelers Buch räumt auf eine ebenso ruhige wie souveräne Weise mit einigen Gemeinplätzen der bis heute auch im Westen dominierenden russischen Erzählung von den „ungleichen Brüdern“ auf und hilft damit, auch die Gegenwart besser zu verstehen. Es ist beruhigend zu wissen, dass es auch in Zeiten des information war noch Aufklärung gibt. Dem Buch, das auf nur 270 Seiten eine sehr komplizierte Beziehungsgeschichte eindrücklich und klar darzustellen vermag, ist die größte Verbreitung zu wünschen.

Andreas Kappeler: Ungleiche Brüder. Russen und Ukrainer. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart. C.H. Beck Verlag, München 2017. 267 S., 16,95 €.

Karl Schlögel

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