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Höhenflug. Der Präsidentschaftskandidat, ausnahmsweise ferngesteuert, über der kalifornischen Küste.

© REUTERS

USA von Ost nach West: Woher kommt die neue Schamlosigkeit?

Immobilienblasen und Herbststürme am pazifischen Ozean: ein Amerika-Besuch in Zeiten des Wahlkampfs.

„Komm im September oder Oktober, da ist es am schönsten“, mailten die Freunde aus Pacific Grove und New York. „Im November wird’s scheußlich.“ Ein halbes Jahr lang habe ich im Netz studiert, wie der Kandidat Trump mit den Kapriolen eines Narzissmus punktet, dem kein Gewissen mehr Grenzen setzt. Jetzt will ich im Land der Kapriolen erkunden, wo die neue Schamlosigkeit herkommt und hinführt, die sich auch hierzulande bei jenen breitmacht, die sich als Alternative für Deutschland aufspielen.

Ich beschließe, von Ost nach West zu reisen. Am Pazifik wird’s im scheußlichen November immerhin schöne Herbststürme geben. Dann mailen die Freunde, dass sie ihr Haus aufgeben müssen. Die Stadtverwaltung hat entdeckt, dass es ohne Genehmigung gebaut wurde. Die Besitzerin hat einen Prozess geführt und hat ihn verloren. Die Freunde müssen jeden Tag mit dem Rauswurf rechnen. „Unsere Küste ist ein Naturschutzgebiet“, mailt M. „Trotzdem wird eine Villa nach der anderen in die Dünen gesetzt. Mit Geld kriegst du hier alles geregelt. Zum Ausgleich geht die Stadt gegen Leute vor, die die Willkür ihrer Verordnungen nicht mit Geld abwehren können. Wenn du erleben willst, was hier läuft, musst du sofort kommen.“

Für 203 Euro buche ich einen Flug nach Oakland. Am Telefon wird mir bestätigt, dass ich ohne gebuchten Rückflug in die USA einreisen kann. Beim Zwischenstopp in Gatwick erfahre ich am Gate, dass das nicht stimmt. Beim Umbuchen habe ich die Wahl: drei Tage in London auf einen 203-Euro-Flug nach Oakland zu warten oder am Tag darauf für die dreifache Summe nach San Francisco zu fliegen.

Ich fliege über Keflavik nach San Francisco. Kaum ist die Maschine in der Luft, rattern vor den Fenstern die Blenden herunter. Der Reisende von heute will seine Sinne nicht mehr mit Bildern von der wirklichen Welt aufladen. Er will nur noch die Bilder auf seinem Notebook in satten Farben zum Leuchten bringen. Von Island sehe ich nur das grüne Gras neben den Landebahnen im Nebel. Von Amerika die letzten Momente des Sonnenuntergangs über dem Pazifik.

Auf der Fahrt vom Flughafen nach Palo Alto deutet der Sohn meiner Freunde auf ein Fahrzeug mit Applikationen auf dem Dach und an den vier Seiten. „Eins der self steering vehicles, die Google im Silicon Valley testen lässt“, sagt er. „Es sitzt aber jemand hinterm Steuer“, protestiere ich. „Ich dachte, die Idee ist, dass man im Fond sitzt und Zeitung liest, während die Technik einen durch den Verkehr lotst.“ Das erlauben die Gesetze nicht, sagt er. Würde er sich in eins der Dinger reinsetzen, wenn niemand am Steuer sitzt? „Eher nicht, es wächst aber eine Generation heran, die nicht mehr weiß, dass man’s mal für riskant hielt.“

Zwei Tage später berichtet die „New York Times“, dass in Pittsburgh im Osten des Landes jeden Tag mit der Einführung von 100 selbstgesteuerten Taxis (mit Mann hinterm Steuer) gerechnet wird. Die einstige Stahlmetropole wurde durch die Importe von chinesischem Billigstahl um ihren Wohlstand gebracht. Der Bürgermeister, der einen Ausweg aus der Misere suchen muss, hat die Stadt der Firma Uber als Experimentierfeld für die neue Technologie angeboten. 500 Experten sind an Ort und Stelle mit den Vorbereitungen des Projekts beschäftigt. Mit dem Pittsburgh Coup hat sich Uber unter den Rivalen Google, Apple und Lyft einen Startvorteil verschafft. Allein die Zeit wird entscheiden, ob der Bürgermeister als Visionär oder als „Hasardeur aus Verzweiflung“ in die Annalen eingehen wird.

Die Gier diktiert den Preis

Der Küstenort Pacific Grove liegt wie eine Faust vor der Stadt Monterey. Gelbe, braune und graue Felsformationen ragen ins Meer und fangen die Wellen auf, die in Kaskaden von weißer Gischt darüberschlagen. Buchten mit Stränden aus feinem Sand liegen dazwischen. Auf den Felsen aalen sich Seehunde. Kormorane stehen in stoischer Reglosigkeit daneben. Pelikane fliegen in Staffeln so dicht über dem Wasser, als wollten sie es nach Nahrung durchscannen. Wenn die Sonne dem Horizont zustrebt, rollen die Wellen als schwarze Schatten über einen Spiegel aus silbernem Licht. Bevor sie untergeht, versammeln sich die Küstenbewohner an den Stränden und geben sich reglos dem Spektakel der glühenden, ins Kühle changierenden Farben hin. Wenn man den Blick auf den Horizont richtet, hat man die Welt mit ihren Gewissenlosen im Rücken und fragt sich, wie man es anstellen kann, hier für immer zu bleiben.

„Vor 150 Jahren sind die Chinesen in ihren Dschunken hier gelandet“, weckt M. mich aus meinen Träumen. „Hier haben sie das erste Chinatown aufgebaut. Die Methodisten haben es niedergebrannt. Sie sind nach San Francisco weitergewandert. Dort haben sie besser aufgepasst.“

Im Ort sehe ich alle paar Schritte Schilder von Maklern, die ein Haus zum Verkauf anbieten. „Alles Zweitwohnsitze“, sagt M. „Die Zinsen sind so niedrig, dass die Leute ihr Geld in Immobilien gesteckt haben. Ihre Gier hat die Preise ins Aberwitzige getrieben. Für eine Garage mit Wohngeschoss haben sie eine Million Dollar und mehr bezahlt. Jetzt spüren sie, dass die Immobilienblase platzt, und versuchen, ihr Geld zu retten. Ihr Pech ist, dass alle den gleichen Einfall haben. Das stärkt meinen Glauben, dass trotz allem ein Hauch Gerechtigkeit waltet.“

Die Gefahr des Gewissenlosen

M. ist Professor für Public Health an der größten Online-Universität des Landes. Eine seiner schwarzen Studentinnen promoviert über die Exzesse der Polizeigewalt gegen Schwarze in Chicago und legt ihm erschreckende Statistiken vor. Er selbst wertet die Ergebnisse einer Umfrage unter Ärzten und Therapeuten über die Zusammenhänge zwischen Public Health und Gefühlen aus. „Die Weißen sind inzwischen in der Minderheit“, sagt er. „Das weckt die Angst, dass die Schwarzen uns heimzahlen werden, was wir ihnen seit den Zeiten der Sklaverei angetan haben. Wenn ein weißer Polizist einen Schwarzen auffordert, die Hände zu heben, und der hat eine Cola-Büchse in der Hand, hält der Weiße sie in seiner Hysterie für eine Knarre und schießt. Trump will Amerika wieder groß machen. Er gaukelt seinen Anhängern vor, dass er sie davor bewahren kann, in die Defensive zu geraten. Wenn er sich vom Gewissen leiten lassen würde, müsste er sich jedoch für eine Politik der Versöhnung einsetzen.“

„Ein Pseudo-Messias, der den Leuten das Blaue vom Himmel verspricht“, sage ich. „Die Geschichte sorgt in Zeiten des Niedergangs mit grausamer Konsequenz dafür, dass Pyromanen wie Nero, Napoleon, Stalin, Hitler an die Macht kommen, deren falsche Verheißungen im Moment der Ernüchterung in einen alles verzehrenden Feuersturm umschlagen.“

Meldungen über einen Kollaps der Kandidatin Clinton sorgen bei den Freunden für einen Moment des Erschreckens. Sie haben Bernie Sanders unterstützt – in ihren Augen der Einzige, der Rezepte gegen die Krise des Landes hat. Die ausgebuffte Hillary Clinton verachten sie. Ihr Schwächeanfall macht ihnen bewusst, wie groß die Gefahr ist, dass der Gewissenlose sich durchsetzt. Statt sich nun aber auf ihre Seite zu stellen, denken sie darüber nach, ihr Domizil nach Europa zu verlegen. An einer Online-Universität sind auch die Dozenten nicht mehr an feste Orte gebunden. „Ich hoffe, du hast deinen Rückflug gebucht“, sagt M. „Nach dem 9. November wirst du keinen mehr kriegen.“

Die Stimme der Vernunft hallt ins Leere

Liberale Zeitungen wie die „Washington Post“ und die „New York Times“ schießen aus allen Rohren gegen den Gewissenlosen. „Wir sind die hohlen Männer,“ schrieb T. S. Eliot, als er den Faschismus aufkeimen sah. „Wir sind die Ausgestopften/ Wir stecken zusammen/Die Köpfe, alas!, mit nichts als Stroh gefüllt“. Die Bewunderer des Gewissenlosen ficht das nicht an. Zu erleben, dass die „ Stimme der Vernunft“ bei den Verstockten ins Leere hallt, ist eine verstörende Erfahrung. Keine unangefochtene Autorität, die davor warnen könnte, einem Mann das wichtigste Amt der Welt anzuvertrauen, der es für smart hält, das der demokratischen Gemeinschaft grundlegende Prinzip des solidarischen Handelns außer Kraft zu setzen, indem er keine Steuern zahlt.

Ein deutscher Theaterverlag bietet mir das neue Stück des New Yorker Dramatikers David Mamet zum Übersetzen an, das 2017 uraufgeführt wird, „The Penitent“. Ein Therapeut entdeckt nach einem Gespräch mit dem Rabbi sein Gewissen wieder und rebelliert gegen den Auftrag, einen Massenmörder, den er vor der Tat behandelte, als Zeugen der Verteidigung zu entlasten. Die Gesellschaft der Gewissenlosen wird im Stück von einer Presse repräsentiert, der es bei der Darstellung krimineller Entgleisungen nur noch ums Spektakel geht. Und von einer Justiz, die hochbezahlte Anwälte dazu einlädt, vor den Geschworenen eine Show zu veranstalten, die den Schuldigen reinwäscht.

Bis zur Zerstörung der eigenen Existenz weigert sich der reumütige Therapeut, sich den Spielregeln der Gewissenlosen zu unterwerfen. Im Gespräch mit einem Staatsanwalt, das an die Großinquisitoren von Schiller und Dostojewski erinnert, weist er auf Nadab und Abihu hin, die Söhne Aarons, die sich über die göttliche Regel für das Brandopfer hinwegsetzten und zur Strafe vom Feuer verschlungen wurden. In selbstzerstörerischem Trotz beharrt er auf der Schönheit des Gewissens. Man wünschte sich, dass das Beispiel denen zu denken gibt, die in diesen Tagen die Politik so gewissenlos für ihren Narzissmus missbrauchen.

Michael Eberth lebt als Dramaturg und Publizist in Berlin. Zuletzt erschien von ihm 2015 „Einheit. Berliner Theatertagebücher 1991 – 1996“ (Alexander Verlag).

Michael Eberth

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