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Verbrecher JAGD: Das Getriebe der Welt

London, zu Beginn des 20. Jahrhunderts.

London, zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Königin Victoria, Herrscherin über die halbe Welt, ist auf ihrem eisernen Thron von Automaten umgeben, die ihren überalterten Körper mit Sauerstoff und Flüssigkeit versorgen. Zuletzt hat Victoria also auch noch den Tod besiegt: Der amerikanische Schriftsteller George Mann hat für seinen Roman „Osiris Ritual“ (Aus dem Amerikanischen von Jürgen Langowski. Piper, München und Zürich 2012, 388 S., 16,99 €) an den Stellschrauben der Weltgeschichte gedreht und ein retro-futuristisches Alternativszenario entworfen. Die Queen wird künstlich am Leben erhalten, während dampfbetriebene Automobile durch die schmutzigen Straßen von London rasen, mechanische Butler Getränke servieren – und ein durchgeknallter Wissenschaftler für bizarre Experimente über Leichen geht.

Mal angenommen, die Industrielle Revolution hätte eine hysterische Wendung genommen: „Steampunk“ nennt sich diese Sorte literarischer Spekulation, die im Grenzland zwischen Science Fiction und Thriller angesiedelt ist. Gerade ist einer der kanonischen Texte des Genres neu aufgelegt worden: „Die Differenzmaschine“ von William Gibson und Bruce Sterling (Aus dem Amerikanischen von Walter Brumm. Heyne, München 2012, 623 S., 9,99 €). Darin verpassen die beiden großen amerikanischen SciFi-Autoren dem 19. Jahrhundert ein techno-politisches Update. Der Mathematiker Charles Babbage – eine reale Figur – entwickelt eine dampfbetriebene Rechenmaschine, und Großbritannien verwandelt sich in einen Überwachungsstaat, der seine Untertanen mit Hilfe von mechanisch gestanzten Lochkarten kontrolliert. Statt Queen Victoria wird Ada Lovelace – auch sie eine reale Figur: die hochbegabte Assistentin von Charles Babbage – vom Volk als „Königin der Maschinen“ verehrt. Ein von ihr entwickelter Algorithmus steht im Mittelpunkt einer verwickelten Verschwörungsgeschichte, in die Gibson und Sterling bereits Anfang der Neunziger alle Themen eingearbeitet haben, die uns jetzt umtreiben. Kontrollgesellschaft und Open Source, Copyrights, Netzneutralität und Mensch-Maschine-Allianzen: Piraten müssten für dieses Buch eigentlich „Gefällt mir“ klicken.

Tatsache ist, dass Steampunk seit kurzem auch in Deutschland ein Revival erlebt. Zwanzig Jahre nach dem Erscheinen von „Differenzmaschine“ werden von jüngeren Autoren wie George Mann oder Cherie Priest heute reihenweise Retro-Schmöker im 400-Seiten-Format produziert. Darüber hinaus hat sich eine selbstbewusste Subkultur entwickelt: Auf dem Wave Gotik Treffen in Leipzig wird neuerdings ein „viktorianisches Picknick“ ausgerichtet, und Ende August findet im niedersächsischen Stade vor der Kulisse der deindustrialisierten Hafenstadt zum ersten Mal das Steampunk-Festival „Aethercircus“ statt: Twentysomethings, die Absinth schlürfen und Neo-Folk hören, sich gegenseitig Jules Verne vorlesen, Messingschmuck basteln oder sich ein mechanisches Auge schminken lassen. Das ist doch putzig: ausgerechnet die „digital natives“, die angeblich in Dauersymbiose mit iPad und Smartphone leben, ziehen sich einen mottenzerfressenen Frack über oder zwängen sich in ein viktorianisches Korsett – und träumen von fauchenden Dampfmaschinen und klapprigen mechanischen Dienern!

Vielleicht steckt dahinter die Sehnsucht nach guter, alter analoger Technik, gegen die man sich zur Not mit einem Schraubenzieher und einer Lötlampe zur Wehr setzen oder die man sich mit ein paar Tropen Öl gefügig machen kann: Jay Lake stellt in seinem wahnwitziges Steampunk-Epos „Die Räder der Welt“ (Aus dem Amerikanischen von Marcel Bülles. Bastei Lübbe, Köln 2012. 362 S., 12,99 €) ein mechanistisches Universum vor, in dem die Erdkugel von gewaltigen Zahnkränzen und einer riesigen Uhrfeder angetrieben wird, begleitet von einem „siderischen Rattern, dem Klang von reinem Messing auf reinem Messing“. Doch das Getriebe der Welt läuft unruhig – und ein Uhrmacherlehrling wird mit einer britischen Luftschiff-Flotte ausgeschickt, um die Sache wieder in Ordnung zu bringen. Klingt irre, aber ehrlich gesagt: Sollte unsere digitale Welt einmal aus dem Takt kommen, die Reparaturarbeiten wären um einiges aufwendiger.

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