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Ausstellung

© Foro: Katalog

Ausstellung: Vollendet hingehauen

Das Brücke-Museum Berlin zeigt „Meisterblätter“ von Ernst Ludwig Kirchner – und erhält sechs Zeichnungen zum Geschenk.

Die Wunde schmerzt. Der Verlust der „Berliner Straßenszene“ von 1914 lässt sich nicht aufwiegen. Drüben in New York hat die Neue Galerie, das Privatmuseum des Sammlermoguls Ronald Lauder, bereits ein hübsches Buch zu ihrer spektakulären Erwerbung veröffentlicht. Doch das Brücke-Museum, dem der Verlust des anschließend für 38 Millionen Dollar verauktionierten Gemäldes von der rot-roten Senatsspitze offenbar vorsätzlich zugefügt wurde, bekommt zumindest ansehnlichen Trost. In einem Festakt überreichte Günther Ketterer am vergangenen Donnerstag namens der Roman-Norbert-Ketterer-Stiftung gleich sechs Zeichnungen dem Haus als Geschenk, die sich nun aufs Schönste in die Ausstellung der „Meisterblätter“ einfügen. Mit einer Auswahl von 103 Zeichnungen (samt wenigen Pastellen) beginnt das Brücke-Museum seine Veranstaltungsreihe zum 70. Todestag Kirchners im selbstgewählten Schweizer Exil 1938.

103 – und zwar alle aus dem eigenen Bestand von mittlerweile 230 Blättern! In dieser unscheinbaren Feststellung liegt die ganze Sensation. Magdalena Moeller, Direktorin des Hauses, ist es im Laufe von gut fünfzehn Jahren gelungen, den vorgefundenen Bestand von 78 Zeichnungen nahezu zu verdreifachen. Eckstein der Zuwächse war der Erwerb der Sammlung Karlheinz Gabler mit sagenhaften 118 Blättern im Jahr 1999.

Und sie besitzt das Vertrauen der Ketterer-Stiftung und des ihr familiär verbundenen Kirchner-Archivs nahe der schweizerischen Bundeshauptstadt Bern, die jetzt mit der Schenkung ein lange vermisstes Licht auf das zauberhafte Haus am Rande des Grunewalds lenken. Kirchner-Autorität Wolfgang Henze stellt den Berliner Bestand im Gespräch vor den ausgestellten Blättern sogar vor denjenigen des Davoser Kirchner-Museums – das aus dem Nachlass des Künstlers erwuchs – auf den ersten Platz unter allen öffentlichen Sammlungen.

Nun also ist – erneut – Gelegenheit, den Rang des Berliner Hauses zu ermessen. Die Ausstellung der „Meisterblätter“ zeigt nicht den ganzen Kirchner, dessen künstlerische Laufbahn sich von seinen Anfängen als frischgebackener, 25-jähriger Diplom-Architekt und Mitbegründer der „Brücke“ 1905 bis zum Freitod auf dem Wildboden oberhalb von Davos-Frauenkirch 1938 erstreckt. Denn das Schweizer Spätwerk ist hier nur spärlich vertreten, so dass drei der Ketterer-Geschenke – die, als Überraschung, erst zur Eröffnung präsentiert wurden und im Katalog der Ausstellung leider fehlen – die Lücke wenigstens ein wenig füllen, stammen sie doch aus den Anfangsjahren des Rückzugs in die Schweizer Berge ab 1917/18.

Ernst Ludwig Kirchners Zeichnungen sind, Blatt für Blatt, abgeschlossene Kompositionen; sofern man diesen Begriff für das „kühn Hingestrichene, wild Ausgetuschte, Gewaltsame“ gelten lassen will, das kein anderer als Goethe 1799 in „Der Sammler und die Seinigen“ als das ihn Reizende beschrieben hat. Wolfgang Henze stellt das Goethe-Zitat, dessen Bedeutung für Kirchner belegt ist, an den Anfang seiner luziden Betrachtung der Zeichnungen im Katalog und gibt mit Goethes darin formuliertem Begriff der „Hieroglyphe einer Figur“ einen weiteren Schlüssel zum Verständnis der Kirchner’schen Arbeit.

Kirchner haut seine „Hieroglyphen“ aufs Papier; berühmt sind die von ihm selbst so bezeichneten „Viertelstundenakte“. Doch die Geschwindigkeit mindert nicht die Vollständigkeit des Bildes, das der Künstler entwirft. Kirchner hat sofort das Ganze im Sinn und lässt Beiläufiges beiseite. Und doch eröffnen die Zeichnungen beim genauen Hinsehen jeweils das Ganze; ob Anlage und Verzierung des eigenen Ateliers, in dem der „Brücke“-Mitstreiter Erich Heckel die Zeitung liest (1911), ob Kaffeetasse und steif gebügelte Serviette vor „Bothe Graef im Restaurant“ (1914), einem besonders nervös hingestrichelten Blatt, oder die Körperhaltung der winzig kleinen „Badenden unter überhängenden Baumzweigen“ vom Sommerurlaub 1914 auf Fehmarn, einem der jetzt gestifteten Blätter. Die topographische Genauigkeit Kirchners ist oft bemerkt worden. Der Potsdamer Platz von 1914 in der großen Fassung des Prachtstücks der Neuen Nationalgalerie liegt bereits in der Kohlezeichnung vollständig vor. In den beiden Fassungen der Uhlandstraße Berlin von 1915, erst Bleistift, dann Feder, wechseln die Personen, nicht die Fassaden.

Vor allem aber zeichnet Kirchner Akte, Akte, Akte. Eine ganze lange Wand im Brücke-Museum ist ihnen gewidmet. Zwei sorgfältige Abzeichnungen von Fresken aus dem indischen Ajanta, die seinerzeit durch eine opulente Veröffentlichung im Schwange waren, unterstreichen Kirchners Interesse an Körperdrehungen, bis hin zum wilden Tanz des Animalischen beim „Zirkusreiter“, der Vorstufe des gleichnamigen Gemäldes. Vorstufe, nicht Vorzeichnung: denn Kirchners Blätter, wie gesagt, stehen für sich, ungeachtet des Umstandes, dass der Künstler seine Kompositionen gerne seriell verwendet und in den unterschiedlichen Techniken erprobt.

So überschaubar das Museum, so gewaltig ist diese Ausstellung: ein Lebenswerk in Bleistift und Papier. Und allemal der eigenen Betrachtung wert und nicht bloß als Begleitung der farbigen Ölmalerei. Eine derart umfassende Ausstellung ist der Lohn intensiver Arbeit, einer Arbeit, die – so Henze eindringlich – im Ausland „ganz anders wahrgenommen“ werde als in Berlin: „Wie kommt es, dass das Brücke-Museum hier nicht so wahrgenommen wird, wie es das verdient?“

Und so ist der traumatisch erfahrene Bildverlust der „Straßenszene“ auch am Ende des Rundgangs durch die Ausstellung wieder Thema. Die sechs neuen Blätter werden nur bedingt geschenkt; die Bedingung lautet, dass das Museum „auf Dauer selbstständig“ bleiben müsse. Denn auch die Eigenständigkeit des Hauses stellte die Berliner Kulturverwaltung bereits zur Disposition. Der Nachlassverwalter Erich Heckels – dessen Schenkung neben derjenigen von Karl und Emy Schmidt-Rottluff am Beginn der Sammlung steht– drohte mit Widerruf. Ob das half, das Vorhaben zu begraben, steht dahin; schlimm genug, dass es überhaupt zu solchen Planspielen kommen konnte.

Gegen die Mauscheleien einer ignoranten Politik hilft nur Öffentlichkeit. Jene Öffentlichkeit, die sich einstellt, wenn die Besucher ins Haus strömen und erkennen, welche Schätze es hütet. Wie jetzt eben – und nicht nur vorübergehend – die atemberaubenden Zeichnungen Ernst Ludwig Kirchners.

Brücke-Museum, Bussardsteig 9 (Dahlem), bis 31. August. Katalog im Hirmer Verlag, 19 €. – www.bruecke-museum.de

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