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Die Schriftstellerin und promovierte Filmwissenschaftlerin Julia von Lucadou. Sie wurde 1982 in Heidelberg geboren.

© Hanser Verlag / Guido Schiefer

Julia von Lucadous Roman "Tick Tack": Von Fame zu Fame

Leben im TikTok-Modus: Julia von Lucadous eindringlicher Gegenwartsroman „Tick Tack“.

Almette Odenthal ist berühmt! Naja, ein bisschen. Heutzutage muss man halt nur mit einem „Rant“-Video, also einer Wutrede auf Gott und die Welt, seinen Abgang ankündigen, sich aufs U-Bahn-Gleis legen, und wenn man wie die 15-jährige Mette das Glück hat, rechtzeitig wieder auf den Bahnsteig gezogen zu werden, schwupps, schon hat man 10 000 TikTok-Follower mehr.

Dass die ganze Aktion nur eine Kurzschlusshandlung war, aus Angst, ihre beste Freundin Yagmur an die neue coole Mitschülerin aus der Ukraine zu verlieren, muss ja keiner wissen.

Dumm ist nur, dass das neue „Fame-Level“, auf das sich die Ich-Erzählerin in Julia von Lucadous Roman „Tick Tack“ (Hanser Berlin, 256 Seiten, 23 €.) unabsichtlich katapultiert hat, nicht von Dauer ist. Was nun? Mette, hochbegabte Schülerin einer Bonner Privatschule, ist schon drauf und dran, sich eine behinderte Katze zuzulegen; einschlägige Clips gehen schließlich regelmäßig viral.

Stimme einer Bewegung im Netz

Da trifft es sich, dass sich ihr gegenüber überraschend der ältere Bruder einer Klassenkameradin, der Mittzwanziger Jo, als Fan outet. Und für sie eine perfekt Social-Media-Strategie entwickelt.

Schließlich habe die Teenagerin, die sich selbst eher einen „Wabbelkörper“ attestiert, Influencerinnen-Potenzial, ja, sogar das Zeug zu einer „Anti-Greta“.

Als „Stimme einer Bewegung“ könnte sie in den Netzwerken die allgemeine Gehirnwäsche in der herrschenden „Meinungsdiktatur“ entlarven. Vorausgesetzt freilich, sie lasse sich von ihm ein wenig Nachhilfe geben, nicht zuletzt rhetorisch. Zunächst weiß Lucadous Protagonistin nicht, was sie von dem undurchschaubaren Freak halten soll.

Die Möglichkeit, dass Jo ein Pädophiler sein könnte, schreckt die Teenagerin interessanterweise nicht sonderlich; sexuelle Belästigung ist ohnehin fester Bestandteil ihres Social-Media-Alltags. Den Ausschlag, sich auf Jos Angebot einzulassen, gibt letztlich, dass Mette von dem verkrachten, sich ihr gegenüber ganz gentlemanlike gebenden Studenten Anerkennung und Aufmerksamkeit erfährt.

Also stürzt sie sich tatsächlich für ihn in die virtuelle Schlacht. Führt zum Beispiel als tanzende „Burka Queen“ die Follower-Scharen in die Irre, um die linke „Cancel Culture“ zu demaskieren; ein Motiv, das an Mithu Sanyals Roman „Identitti" erinnert: „Die Burka Queen ist gar keine tanzende Gute-Laune-Muslimin. Stattdessen ein urdeutscher Streichkäse.“

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Dass es bei diesen Videos nicht um den Islam gehen soll, sondern um die „verdammte Meinungsfreiheit“, will freilich niemand begreifen. Der folgende Shitstorm nach Mettes planmäßiger Enttarnung durch Jo ist so heftig, dass er die Teenagerin fast zum nächsten Suizidversuch führt. Doch so richtig übel wird es für sie erst nach Ausbruch der Pandemie.

Die zweite Hälfte von Lucadous Roman, der irgendwann 2019 beginnt, spielt nach einem kleinen Zeitsprung im Sommer 2020. Da verweigert sich Mette nicht nur dem Maskenzwang in der Schule. Inzwischen ist sie zu einer „Galionsfigur der Neuen Rechten“ avanciert, hetzt auf Instagram die pandemieungläubigen Massen auf oder trägt auf Demos „für Freiheit und Demokratie“ Sophie-Scholl-Zitate durch Berlin.

Ohne zu merken, wie sehr Corona ihrem vermeintlichen Mentor Jo politisch in die Karten spielt. Und dass sie das Opfer eines Falls von Gaslighting wird. Denn der nette Jo ist in Wahrheit ein frauenfeindlicher Incel, der mit der Teenagerin sein perfides Spiel treibt. Längst hat er sich für seine „fettemette“, wie er sie auf seinem geheimen Incel-Account nennt, einen besonders öffentlichkeitswirksamen Abgang ausgedacht.

Julia von Lucadou, Jahrgang 1982, wurde vor vier Jahren mit ihrem Debüt „Die Hochhausspringerin“ bekannt, einer eindrucksvollen Dystopie, die den Horror einer allgegenwärtig gewordenen Selbstoptimierung ausbuchstabierte.

Vorsicht Netzjargon!

Mit „Tick Tack“ hat die Autorin nun einen eindringlichen Gegenwartsroman vorgelegt, der vor aktuellen Themen nur so strotzt, von der Verquickung von Misogynie und rechtem Denken in den sozialen Netzwerken bis hin zur Anti-Corona-Bewegung und der Spaltung der Gesellschaft.

Leser:innen sollten aber besser keine Angst vor Netzjargon mit all seinen Anglizismen à la Tags, Captions und Footage haben. Abwechselnd aus Mettes und Jos Perspektive erzählt, sind die Passagen des selbsternannten „Memelords“ Jo zudem passenderweise als „Greentext“ verfasst, eine in einschlägigen Foren wie „4Chan“ übliche Schreibweise, bei der jedem neuen Satz ein zitierendes „>“ vorangestellt ist.

Wie die Autorin in einem Interview eingeräumt hat, ist die zweite Romanhälfte unter dem Eindruck all der Veränderungen 2020 entstanden. Gut tut dem Werk der thematische Overkill eher nicht, zumal es unglaubwürdig wirkt, wie sehr die sonst so schlaue Mette dem schleimigen Jo auf den Leim geht, wie willfährig sie sich zu seinem Werkzeug machen lässt und wie rasch sie zudem in der Anti-Corona-Bewegung nach oben gespült wird.

Seine Stärken hat „Tick Tack“ dort, wo der Roman zeigt, wie sehr Social Media die Weltwahrnehmung heutiger Teenager:innen durchdringt und formt: „TikTok ist ein organisches Add-on meines natürlichen Existenzmodus, evolutionär gesprochen“, lässt die Autorin ihre Ich-Erzählerin erklären.

"Ich habe sowieso meistens einen Soundtrack im Kopf, als ob ich mich von Szene zu Szene des längsten Films der Welt bewege. Jeder Moment verdient seinen eigenen Song. Besonders die epischen Momente natürlich, aber auch langweilige Übergänge wie U-Bahn-Fahrten, Therapiesitzungen oder Elterngespräche, die man über einen guten Beat zu einer Montagesequenz zusammenschneiden würde.“

Apropos Eltern. Die schwanken hilflos zwischen Anbiederung und Ratlosigkeit. Als sie endlich Wind von der Schwierigkeiten bekommen, in denen ihre Tochter steckt, kann Mette darüber nur müde lachen: „Jetzt ist es also auch zum gemeinen Volke durchgesickert. Mir bleibt nichts erspart. Zehn Tage Internet-Hate und jetzt das Analog-Upgrade: der Eltern-Ausraster.“

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