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Nick Cave am Mittwochabend in der Waldbühne.

© IMAGO/Votos-Roland Owsnitzki

Nick Caves Auftritt in Berlin: Von hier bis in alle Ewigkeit. Amen

Eine Übung in Demut mit vielen emotionalen Momenten: Das Konzert von Nick Cave und seinen Bad Seeds in der Berliner Waldbühne.

Knapp zwei Stunden sind am Mittwoch rum, und die Emotionen in voller Wallung. Da lehnt sich Nick Cave ins Publikum. Dem Fan, der ihn hält, sagt er noch: "Du bist doch ein großer Junge, oder?" Einem anderen drückt er das Mikro in die hochgereckten Hände, dann wendet er sich einer Frau auf den Schultern ihres Freundes zu.

Er signalisiert seiner Band, den Bad Seeds, ganz leise zu spielen, und schaut der Frau in die Augen. Sie kann ihr Glück kaum fassen, ihr Mund formt immer wieder die Worte "Hold me, Nick!" und "I love you!". Er streckt die Hand aus, berührt fast die ihre, noch nicht ganz. Dann fängt er an zu schnurren. Endlich die Berührung, und was singt er dazu mantraartig? "Hannah Montana, Hannah Montana, Hannah Montana".

Bei Nick Cave ist die Grenze zwischen Rockstar-Performance und Dekonstruktion fließend. Es fühlt sich an, als würde er mit der Verführbarkeit der Massen spielen und gleichzeitig die Absurdität dieser Hingabe aufzeigen. Hannah Montana, Hauptfigur einer Disney-Sitcom, hat in seinem Song "Higgs Boson Blues" von 2013 einen so kryptischen wie beißend komischen Auftritt.

Doch eben nicht nur seine zwischen Poesie und Satire pendelnden Texte laden zum munteren Interpretieren ein, auch seine Auftritte.

Cave skandiert "Cry, cry, cry"

Nick Cave ist eine wandelnde Sampling-Maschine. Immer wieder brechen Textfragmente aus ihm heraus und in andere Stücke herein. "Cry, cry, cry" aus "From Here To Eternity" von 1984 zum Beispiel, dem frühesten Song, den er in der Waldbühne spielt.

Gleich an dritter Stelle, da ist es noch nicht mal halb acht. Das will was heißen, schließlich schwillt das Stück zu einem gewitterartigen Crescendo an. Noch auf dem Nachhauseweg wird eine Konzertbesucherin fortgeschrittenen Alters einer anderen zuraunen: "Das war ja fast wie Krieg."

Cave - wie immer im schmalen, dunklen Anzug mit Weste darunter und weit aufgeknöpftem weißen Hemd - tigert dazu ruhelos über die Bühne. Nur für Momente am zentral aufgestellten Flügel, dann wieder zum Bühnenrand. Er lässt sich auf die Knie fallen, flüstert mal, schreit dann wieder. So viel Energie in ihm, die raus muss, auch mit 64 Jahren.

Dieses "Cry, cry, cry" schleudert er im Laufe des zweieinhalbstündigen Konzerts immer wieder dem Publikum entgegen, genauso wie "just breathe, just breathe, just breathe", eine Zeile aus seinem Lied "I Need You" von 2016. Im Jahr davor war sein Sohn Arthur im Alter von 15 Jahren verunglückt, und Cave nutzte seine Musik, um den Verlust zu verarbeiten.

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Touren wollte er damals nicht, stattdessen drehte er den Dokumentarfilm "One More Time With Feeling".

Anfang Mai 2022 dann der nächste Schicksalsschlag: Ein weiterer von Caves vier Söhnen, Jethro Lazenby, stirbt unter nicht näher benannten Umständen. Er wurde 31 Jahre alt. Diesmal geht Nick Cave auf Tour. Sie startet Anfang Juni, nach zweijähriger Corona-Pause. Bei seinem Auftritt in Barcelona am 4. Juni widmet er "I Need You" seinen verbliebenen Söhnen, Luke und Earl.

In Berlin spricht er diese Widmung zwar nicht aus, trotzdem schnürt es einem die Kehle zu, als er den Song allein am Flügel spielt. "Nothing really matters, when the one you love is gone", singt er, bevor er am Ende dieses "Just breathe" wieder und wieder wiederholt, bis es langsam verklingt.

Einfach nur atmen. Man schaut auf die Leinwände neben der Bühne, auf denen sein Gesicht in Großaufnahme zu sehen ist, und fahndet nach Spuren seines Schmerzes. Der Besuch eines Cave-Konzerts ist auch eine Lektion über das eigene Verlangen, große, wahrhaftige Emotionen zu erleben - letzten Endes eine Übung in Demut.

Ellis ist das zweite Epizentrum des Bad Seeds

In etlichen der 22 Songs, die Cave schön verteilt aus seinem mehr als vierzigjährigen Werk spielt, glühen plötzlich Textzeilen auf, die mit der Erfahrung des Verlustes aufgeladen scheinen. Auch jedes Sich-im-Handtuch-Schnäuzen auf der Bühne lässt sich schnell als Gefühlsausbruch deuten. Cave nutzt das für sein Spiel mit den knapp 21.000 Menschen in der ausverkauften Waldbühne. So bricht er die allgemeine Andacht, wenn er sich in die Stille am Ende von "I Need You" hinein genussvoll am Mikro räuspert.

Schon einen Song zuvor, bei "Bright Horses", bricht dem Sänger die Stimme. Wird er übermannt von seinen Emotionen? Es wäre kein Wunder, angesichts der erschütternd leuchtenden Gesangskaskaden, die Musiker Warren Ellis zum Stück von 2019 beisteuert. Ellis ist ein Schrat mit langen Zotteln, die stufenlos in den ebenso langen Bart übergehen. Egal ob er, wie bei "Bright Horses", mit kleinem Synthesizer auf dem Schoß vor dem Mikro sitzt oder seiner E-Gitarre bei "Jack the Ripper" Lärmschübe entlockt: Das Mitglied der Bad Seeds scheint förmlich zu vibrieren vor kreativer Potenz.

Nicht nur auf der Bühne wirkt Ellis neben Cave wie das zweite Epizentrum. In den vergangenen 15 Jahren ist er zum wichtigsten Partner des Sängers avanciert. Gemeinsam schrieben sie etliche Soundtracks, zuletzt für die Natur-Doku "Der Schneeleopard". Auch Caves aktuelles Album "Carnage" (2021) haben sie zu zweit erdacht.

Viele weinen bei "The Ship Song"

Live spielen sie zwei Songs daraus, das Titelstück und "White Elephant", in voller Bandstärke. Mittlerweile findet sich mit Carly Paradis an den Keyboards auch eine Frau in Caves Live-Aufgebot. Dazu noch drei Backing-Sänger:innen im Glitzer-Outfit, die den Gospel-Touch etlicher Stücke verstärken.

Das passt bestens zum Prediger-Image des Sängers, der eben nicht nur über Liebe, Tod und Hannah Montana singt, sondern gern auch über den Glauben.
Das Publikum, größtenteils Mitte dreißig bis Mitte fünfzig, lässt die aktuellen Songs mit freundlicher Zurückhaltung vorüberziehen. Emotionaler reagiert es auf alte Balladen wie "The Ship Song" von 1990. Da schluchzt manche:r hemmungslos - auch ganz ohne Dunkelheit, die die Tränen verbergen könnte.

Nick Cave hypnotisiert sein Publikum zunehmend. Wenn er bei "Ghosteen Speaks", am Ende des ersten von zwei Zugabenblöcken, dazu animiert, die Arme zu heben, dann recken sie diese Arme auch noch im obersten Rang nach oben. Dazu singt er: "I think my friends have gathered here for me."

Cave mag ein meisterhafter Manipulator sein. In der Waldbühne liegt am Mittwoch aber auch noch etwas anderes in der Abendluft: eine tiefe Zuneigung für die Menschen, die sich versammelt haben, um ihn zu sehen.

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