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Wichtiger als die Sehenswürdigkeit ist das Selfie. Reisende vorm Eiffelturm in Paris.

© Ludovic Marin/AFP

War schön gewesen: Andreas Maiers Trostbuch zur Zeit

Wie schrecklich Reisen sind: Andreas Maiers Roman „Die Städte“.

Die Welt wird größer, zumindest die von Andreas Maier. Vor über einem Jahrzehnt begann der Frankfurter Schriftsteller mit „Das Zimmer“ seinen auf elf Bände angelegten autobiografischen Romanzyklus mit dem übergeordneten Titel „Ortsumgehung“, der infolge die Perspektive seines Ichs, seines erst kindlichen, dann jugendlichen Alter Egos stets weiter werden ließ, von „Die Straße“ über „Der Kreis“ bis hin zu „Die Universität“ und „Die Familie“.

Jetzt ist der achte Teil erschienen, er heißt „Die Städte“, und Maier erzählt darin, wie er, der „Problem-Andreas“ von einst, die Welt außerhalb Bad Nauheims, Friedbergs, der Wetterau und Frankfurt kennenlernt. Andreas Maier geht auf Reisen.

Erinnern ist das oberste Gebot

Das beginnt damit, schließlich ist das Erinnern in diesem Romanprojekt oberstes Gebot, dass Maiers Ich-Erzähler als Kind mit seinen Eltern die alljährliche Urlaubsfahrt mit dem Auto nach Südtirol machen muss, in ein Örtchen nicht weit von Brixen.

Mitten in der Nacht geht es los, damit die Warterei am Brenner-Grenzübergang nicht allzu lang wird, zu dritt die Kinder auf der Rückbank. Nur gut, dass es Schinkenbrote und „Asterix“-Hefte gibt, sonst wäre diese Fahrt nicht auszuhalten.

Einmal angekommen, scheint sich dem Jungen der Sinn dieses sogenannten Urlaubs nicht zu erschließen; das Auto wird zum „zentralen Instrument der Leidensermöglichung“. Es folgt eine Auflistung der Urlaubstage, mit exakter Angabe der im Auto verbrachten Minuten oder Stunden.

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So gehen sie weiter, die Leiden des jungen M.: in Athen, ein letztes Mal noch mit den Eltern, auf einer Tramptour mit einem Freund nach Biarritz, im italienischen Oulx, einem Skiort nicht weit von Turin, mit einer Freundin, die ihm ihre Urlaubsfotos aus Bangkok zeigt. Es endet in Weimar, wo sich die Touristen vor dem Goethehaus am Frauenplan auf die Füße treten.

Natürlich haben die Erinnerungen an diese Reisen etwas Willkürliches, sind die Orte, in denen sich das Ich dieses Romans aufhalten muss oder bei aller Ziellosigkeit will, nicht der primäre Auslöser für dessen Unwohlsein. Dieses ist ein grundsätzliches. Hier äußert sich eine tiefe Skepsis der Welt gegenüber, ein Befremden über das Denken und Tun der Menschen.

Cover von "Die Städte"
Cover von "Die Städte"

© Suhrkamp

[Andreas Maier:  Die Städte. Roman. Suhrkamp Verlag, Berlin 2021. 192 Seiten, 22 €.]

Der junge Maier genießt das Alleinsein im Athener Hotel, das Ouzo-Trinken allein an der Bar. Oder die Gedanken daran, sich in der Ferienwohnung in Oulx das Leben zu nehmen, dabei aber doch bitte keine Blutspuren zu hinterlassen. Zumal es im Badezimmer nicht einmal eine Wanne gibt: „Übrigens störte mich auch die Anwesenheit der Kloschüssel. Wer will schon neben einer Kloschüssel gefunden werden?“

Man hat bei den fünf Szenerien in diesem Buch (und übrigens auch bei den anderen Büchern der „Ortsumgehung“) bisweilen den Eindruck, als irrlichtere hier jemand durch die Welt; als sei Erratik Trumpf und das Leben in kleine Erzähleinheiten portioniert. Doch Maier ist stets auf der Suche nach sich selbst, auf der Spur seines Ichs, forscht nach der Person, die damals wie heute gern danebensteht, die komisch ist, etwas Kauziges hat.

Die Erzählzügel hält Maier fest in der Hand

Und warum nicht auch unterhalten? Die Erzählzügel hält Maier durchweg fest in der Hand, und die Fragestellung nach dem Sinn und vor allem Unsinn von Reisen schlängelt sich als roter Faden durch „Die Städte“, so, wie es in den vorangegangenen Bänden der „Ortsumgehung“ ebenfalls ein jeweils wiederkehrendes Thema gibt. Also: Was soll das viele Autogefahre? Was für Erkenntnisse verschafft eine geführte Rundreise durch Griechenland?

Warum macht man Urlaubsfotos? Um andere zu beeindrucken, um zu sagen, wie „schön“, „beeindruckend“ und „toll“ alles gewesen ist? Wie für Maiers Bekannte Astrid nach ihrem Bangkok-Trip. Nur: Der 13-jährige Maier fand seinerzeit das Hotel, dessen Innenhof und Bar gleichfalls „schön“, „beeindruckend“ und „toll“. Ja, und „dafür haben Astrid und ihr Freund freiwillig 18 000 Kilometer zurückgelegt.“

Was suchen Nicht-Leser in Goethe-Weimar

In Weimar muss Maier sich von einer Einheimischen dafür schelten lassen, einfach so herumzustarren; auch hier fragt er sich, was die Touristenmassen in dieser Stadt eigentlich wollen, Menschen, die keine Zeile Goethe gelesen und den Namen Wieland noch nie gehört haben.

Das Reisen ist zur Ware geworden „wie die Waren in einem Discounter in die Regale geräumt sind“. Massenware. Eine gewisse Miesepetrigkeit wohnt diesem Roman inne, da atmet man bei der Lektüre immer wieder auf, wenn der Erzähler sich mit seinen ureigenen Malaisen beschäftigt.

Trotzdem, ob beabsichtigt oder Zufall: Andreas Maier hat mit „Die Städte“ das Trostbuch zur Zeit geschrieben. Die Welt ist kleiner geworden, schon lange. Doch das jetzt noch einmal anders, als man sich je hat träumen lassen.

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