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Kultur: Was bitte ist Plümoh?

"Die totale Familie" nannte Heimito von Doderer seinen Roman "Die Merowinger" im Untertitel. Der letzte Merowinger-Spross Childerich versucht, durch vier ausgeklügelte Heiratspläne möglichst viele Verwandtschaftsgrade in seiner Person zu vereinen.

"Die totale Familie" nannte Heimito von Doderer seinen Roman "Die Merowinger" im Untertitel. Der letzte Merowinger-Spross Childerich versucht, durch vier ausgeklügelte Heiratspläne möglichst viele Verwandtschaftsgrade in seiner Person zu vereinen. Von einer totalen Familie, vom totalitären System der Blutsbande handelt auch ein sehr heutiger Roman, und das mit grimmiger Ausschließlichkeit: "Scherbentanz" von Chris Kraus.

Familie, sagt der Drehbuchautor, habe für ihn immer etwas mit Einsamkeit zu tun. Zehn Jahre geht Kraus, 1963 in Göttingen geboren, diesem Beruf jetzt nach. Er war an Filmen wie Rosa von Praunheims "Einstein des Sex" oder Volker Schlöndorffs Projekt, die "Blechtrommel" beteiligt. Seine Prosatexte hat er bislang als Steinbruch fürs Drehbuchschreiben genutzt. "Scherbentanz" überlebte diesen Angriff auf die Substanz. Deshalb erscheint der Roman nun als Buch zum Film: Ein halbes Jahr vor der Kinopremiere traten Chris Kraus und "Scherbentanz"-Hauptdarsteller Jürgen Vogel gemeinsam vors Publikum, und der Filmpalast am Friedrichshain stand Kopf.

Ein Abend für Jürgen-Vogel-Fans also - die Literatur war da eher Nebensache. Das sah auch Chris Kraus schnell ein, ganz der gute Sportskamerad. Kumpel Jürgen hatte das Wort: "Gut, dass der Autor da ist, dann mache ich keine Fehler." Angeblich war es seine erste Lesung überhaupt, so hörte es sich jedenfalls an. Jeder Versprecher ein Triumph, jedes Verhaspeln eine Pointe, vom Publikum johlend goutiert. Per Zuruf wurde Vogels eigenwillige Aussprache von Fremdworten korrigiert, ganz im Sinne der Pisa-Studie: "Plümoh heißt das! Jürgen, kennst Du Seneca nicht?" - "Nee, muss daran liegen, dass ich aus Hamburg komme."

So ging das hin und her, ein kryptischer Dialog. Sollte Jürgen Vogel mit seiner Ahnungslosigkeit geblufft haben, wäre er wirklich ein hervorragender Schauspieler. So konnte nur sein hilfloses Grinsen für die akustischen Strapazen entschädigen - jenes durch Film und Fernsehen bekannte, schönbezahnte Lächeln.

Jürgen Vogel im langen Männerrock, grinsend - das ist eines der zentralen Bilder aus der Vorführung des Rohschnitts von "Scherbentanz". Er spielt Jesko, den hippen Modedesigner und ungeratenen Sohn einer baltischen Industriellendynastie. Buch und Film setzen mit einer nächtlichen Fahrt nach Mannheim ein, über den metallisch glitzernden Rhein. Jesko, der Seneca-Leser, wird von seinem Bruder Ansgar abgeholt, dem designierten Chef des Familienunternehmens "Solm Zement". Ihren mächtigen Vater, den nur der Schluckauf besiegen kann, verachten sie. Die Mutter hat vor Jahren den Verstand verloren und wollte gar ihre Söhne umbringen. Doch da Jesko an Leukämie leidet und einen Knochenmarkspender braucht, wurde sie mit Hilfe eines Detektivs wieder aufgetrieben. Nun liegt sie da in ihrem Wahn, von den scheinbaren Siegern der häuslichen Tragödie, "isoliert wie ein Starkstromkabel".

Mutter im Morgenmantel

Ob die Transplantation tatsächlich stattfindet, ob die Lebenslüge des Vaters auffliegt - die Handlung hangelt sich von einem Geheimnis zum nächsten. Regisseur und Autor Chris Kraus scheint mit "Scherbentanz" eine Mischung aus Heinrich Bölls Familiendrama "Ansichten eines Clowns" und aus Peter Fleischmanns schrillen Filmen der siebziger Jahre wie "Das Unheil" vorgeschwebt zu haben. Wenn die gespenstische Fassbinder-Heldin Margit Carstensen als umnachtete Mutter im Morgenmantel mit ihrer Krücke die Blumen im Fabrikantengarten köpft, dämmert auch noch ein bisschen Christoph Schlingensiefs "Deutsches Kettensägenmassaker" herauf.

"An den Schmerzen erkennst du, ob du zuhause bist, nicht am Türschild", heißt es im Roman. Leonie Ossowski lobte im Gespräch mit Chris Kraus den "direkten, aggressiven, selbstbewussten Stil", mit dem sich eine neue literarische Generation ankündige. Das mag etwas zu hoch gegriffen sein, dennoch: Man kann diesem Buch mit seinen feinen Beobachtungen, seinem schwarzen Humor, der zu überraschenden Metaphern findet, nur wünschen, dass es vom unweigerlich folgenden Film nicht zu sehr in den Schatten gedrängt wird. Das Drama der nicht enden wollenden Adoleszenz: "Scherbentanz" ist daraus ein weiteres, tragikomisches Kapitel.

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