zum Hauptinhalt
Könnte auch in England sein - ist aber in diesem Fall der Rennsteiglied in Thüringen

© dpa

Weihnachtskrimi: Der Schnee von gestern

In Großbritannien längst ein Klassiker, wie Agatha Christie, in Deutschland noch zu entdecken: J. Jefferson Farjeons Kriminalroman „Geheimnis in Weiß“

Weiße Weihnacht: ein Traum. Genauer gesagt: ein Alptraum. Denn die weiße Decke, die sich leise rieselnd über Stadt und Land senkt, kann auch zum Leichentuch werden. „Es gab mehr Schnee“, heißt es in J. Jefferson Farjeons Kriminalroman „Geheimnis in Weiß“. „Er schwebte aus seiner unerschöpflichen Quelle wie ein riesiges Löschblatt herab. Die Leute fragten sich, ob es überhaupt je wieder aufhörte zu schneien.“ An den zwei Tagen, von denen das Buch aus dem Jahr 1937 erzählt, das nun erstmals in einer deutschen Ausgabe herausgekommen ist, hört es jedenfalls nicht auf. Es schneit am 24. Dezember, und es schneit am 25. Dezember, so heftig, dass das öffentliche Leben zum Erliegen kommt. Das glitzernde Naturschauspiel verwandelt sich in eine eiskalte Bedrohung. Friedliche Weihnacht? Fällt diesmal aus.

Eine bunt zusammengewürfelte Reisegesellschaft, die in einem Abteil dritter Klasse vom Londoner Bahnhof Euston aus in Richtung Manchester aufgebrochen ist, bleibt auf halber Strecke mit dem Zug im Schneeregen liegen. Drinnen wird es langsam kalt, draußen türmen sich die unberührten Schneemassen. „Die regungslose weiße Szenerie war wie ein Film, der plötzlich aufgehört hatte.“ Was nun beginnt, ist ein anderer, ziemlich gruseliger Film, den ein Alfred Hitchcock inszeniert haben könnte.

Sieben der Weihnachtstouristen kämpfen sich zu einem abgelegenen Landhaus durch. Die Tür ist unverschlossen, im Kamin brennt ein Feuer, der Tisch ist gedeckt und im Kessel kocht Wasser. Irgendwer scheint nur auf sie gewartet zu haben. Aber keine Spur von einer Menschenseele. Eine Zuflucht? Oder eine Falle, wie das Knusperhäuschen, in das die Hexe Hänsel und Gretel lockt? Vielleicht ein haunted house, in dem Gespenster spuken? „Dieses Haus ließ einen trotz des brennenden Feuer durchaus frösteln.“

Farjeons Whodunit erinnert an Agatha Christies „Die Mausefalle“

Anfangs sind die Protagonisten bloß Typen, „die Revuetänzerin“, „der ältliche Nörgler“, „der Buchhalter“ oder „der alte Mann in der Ecke“. Erst im Laufe der Geschichte bekommen sie Namen, Biografien, Gefühle und Ängste. So lernt der Leser sie gewissermaßen gleichzeitig mit den anderen Figuren kennen, wobei zu beachten ist, dass nicht alles, was sie erzählen, stimmen muss. Die Revuetänzerin, die sich bei der Expedition einen Knöchel verstaucht, gibt sich als kühle Männer-den-Kopf-Verdreherin, träumt aber heimlich davon, wie wunderbar es wäre „einen Mann ganz und auf ewig erobern zu können, statt bloß eine flüchtige Kostprobe zu sein“.

Der Buchhalter verliert sich bald in Fieberdelirien und träumt von der Revuetänzerin. Die Geschwister Lydia und David, clever und smart, übernehmen die Alltagsorganisation. Zum Anführer der Gruppe und Möchtegern-Entschlüsseler des Rätsels um das leere Haus schwingt sich ausgerechnet Edward Maltby von der Königlich-Parapsychologischen Gesellschaft auf. Eigentlich ist er unterwegs, um Karl I. zu treffen, den 1649 geköpften Stuart-König. „Wir können die Vergangenheit enthüllen“, lautet Maltbys Credo. „Die Vergangenheit ist unauslöschlich.“ Übersinnliche Fähigkeiten können die im Schnee Gestrandeten durchaus gebrauchen. Denn bald taucht ein grobschlächtiger, latent bedrohlicher „Cockney“ namens Smith auf, und es stellt sich heraus, dass im Nachbarabteil ein Mann ermordet wurde. Außerdem liegt ein verschmiertes Brotmesser auf dem Küchenboden. Ein Tatwerkzeug? Bei einer Leiche wird es nicht bleiben.

Geschlossene Gesellschaften, in deren Mitte sich ein Mörder befinden muss, gehören im englischen Kriminalroman zum Stammpersonal. Meisterin in der Kunst, den Verdacht des Lesers dabei immer wieder auf die falsche Fährte zu führen, ist Agatha Christie, von „Mord im Orient-Express“ über „Tod auf dem Nil“ bis zu „Alibi“, wo genialerweise der Mörder der Erzähler ist. Stärker noch erinnert Farjeons Whodunit an „Die Mausefalle“, Christies Theaterstück, das seit 1952 ununterbrochen am Londoner Westend läuft. Dort wird in einer eingeschneiten, von der Außenwelt abgeschnittenen Pension ein Gast umgebracht. Am Ende ist der Polizist als Täter überführt, genauer gesagt: Der Mann, der sich als Polizist ausgegeben hatte.

Misstrauen muss man auch in „Schnee in Weiß“ allen Figuren und ihren Aussagen. In Großbritannien längst ein Klassiker, war das Buch in Deutschland bislang genauso unbekannt wie sein Verfasser. Dabei gebührt J. Jefferson Farjeon, der 1883 in London zur Welt kam und 1955 dort starb, ein Platz in der Ehrenhalle der englischen Kriminalschriftsteller. Er veröffentlichte mehr als achtzig Romane, Hitchcock verfilmte sein Stück „Nummer Sieben“. Die Kollegin Dorothy L. Sayers lobte, dass er „das Handwerk des Gruselns beherrscht wie kein Zweiter“. Als der Fall geklärt ist, schmücken die Überlebenden das unheimliche Haus nach britischer Weihnachtssitte mit roten Beeren und grünen Stechpalmenblättern. „Über dem Haus lag der Tod, doch das Leben musste sich dagegen wehren.“ Fröhliche Weihnachten!

J. Jefferson Farjeon: Geheimnis in Weiß. Eine weihnachtliche Kriminalgeschichte. Deutsch von Eike Schönfeld. Klett-Cotta, Stuttgart 2016. 282 S., 14,95€.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false