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CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann fordert ein Bekenntnis zur deutschen Leitkultur.

© dpa/Michael Kappeler

Wenn Sprache spaltet: Was Bekenntnisse leisten müssen - und was sie zerstören können

Politik und Gesellschaft werden mit Bekenntnissen und einer bekenntnisnahen Rhetorik überdüngt. Ein Essay.

Von Norbert Schneider

„Alle, die hier leben wollen, müssen unsere Leitkultur ohne Wenn und Aber anerkennen“. So befiehlt es der Entwurf des neuen CDU-Programms den Migranten, die in Deutschland leben wollen.  Zu dieser Leitkultur gehören „Menschenwürde, Rechtsstaat, Respekt und Toleranz“, aber auch das „Bewusstsein von Heimat und Zugehörigkeit“. Und, neu dazugekommen, die „Anerkennung des Existenzrechts Israels“.  „Nur wer sich zu unserer Leitkultur bekennt, kann sich integrieren und deutscher Staatsbürger werden.“

Selbstverständlich gilt auch für Fremde, die in Deutschland leben (wollen), die Verfassung. Aber warum muss man sich zu ihr bekennen? Deutschen Staatsbürgern wird das nicht abverlangt.  Doch falls eines Tages doch - wie hieße dann die Bekenntnisformel? Wer würde ein solches Bekenntnis abnehmen? Und wann? Und wo? Würde es bis dahin nicht reichen, wenn man fordern würde, die Verfassung, also den Kern der Leitkultur, einfach zu beachten, sich nach ihr zu richten? Und wer dies nicht tut, hätte wie jeder Bürger dieses Landes die Folgen zu tragen? Was verspricht man sich von einem Bekenntnis, was anders nicht zu haben ist? Was ist das überhaupt - ein Bekenntnis?

Das Glaubensbekenntnis, das in Nicäa 325 n.Ch. beschlossen wurde, zeigt wesentliche Merkmale. Bekenntnisse dieses Typs sind immer ein Schlusspunkt, ein Machtwort nach mehr oder weniger langen Diskussionen. In Nicäa ist es das Ende eines (erbitterten) Streits um den rechten Glauben. Zwar gibt es keine Beweise für die Auffassung, dass Jesus, der Sohn, nicht von anderer Natur, sondern wesensgleich mit Gott, dem Vater ist: homoousios. Doch auch wenn man das nicht beweisen kann - Bekenntnisse, nicht nur solche aus der frühen Kirchengeschichte, brauchen keine Beweise. Man muss ihnen glauben. Und zwar nicht nur religiöse Bekenntnisse, was noch einleuchtend wäre; sondern auch, wenn es um andere, um säkulare Inhalte geht. Dieser Glaube an etwas  bindet und verbindet Gleichgesinnte, der Glaube an einen Menschen, eine Meinung, eine Ideologie, die Richtigkeit einer Entscheidung. Er ersetzt den Beweis.

Ein Bekenntnis erlaubt nur zwei Reaktionen: Zustimmung oder Ablehnung. Kein „Ja, aber…! “ Ein Kompromiss ist ausgeschlossen. Es soll Klarheit geschaffen werden, eine Klarheit, die die Verweigerer eines Bekenntnisses bestreiten. Sie bleiben draußen.

Bekenntnisse stehen für Inklusion. Doch im selben Maß auch für Exklusion. Die großen Bekenntnisse spalten - Religionen, Völker, politische Parteien. Die eher kleineren auch Vereine, Freundschaften, Familien.

Bekenntnisse sind für beides gut: sie können zum Tafelsilber einer Gesellschaft gehören oder ihr Sargnagel sein.

Das Bekenntnis kennt viele Formen. Es adressiert alle Sinne.  Man kann es sprechen. Sonntags in der Kirche. Und selbst, wenn man es nicht glaubt, bleibt es ein Lippenbekenntnis. Man kann es singen. Als Hymne vor einem Fußballspiel. Man kann es sehen:  eine Sitzblockade, den grün gefärbten Canale Grande, Menschen, die sich auf eine Fahrbahn kleben, Menschen, die sich öffentlich verbrennen.

Wir klagen uns an, dass wir nicht mutiger bekannt, nicht treuer gebetet, nicht fröhlicher geglaubt und nicht brennender geliebt haben.

Stuttgarter Schuldbekenntnis von 1945

Auch die Bandbreite der Inhalte ist groß. Man kann im wahrsten Sinn des Wortes alles Mögliche bekennen. Es gibt die eher „dogmatischen“ Texte wie das Nicänum, zeitbedingte wie die Erklärung deutscher Professoren vom 5. März 1933: „Mit Adolf Hitler für des deutschen Volkes Ehre, Freiheit und Recht!“. Es gibt Bekenntnisse der Reue, der Entschuldigung wie das „Stuttgarter Schuldbekenntnis“ vom 19. Oktober 1945, in dem es heißt: „Wir klagen uns an, dass wir nicht mutiger bekannt, nicht treuer gebetet, nicht fröhlicher geglaubt und nicht brennender geliebt haben.“

Solche schwergewichtigen Bekenntnisse – etwa eine Verfassung - mit dem hohen Ton, mit einer langanhaltenden Wirkung, sind freilich eher selten. Die große Mehrheit entsteht aktuell mit Bezug auf eine anstehende Entscheidung, kommt ohne Pathos aus und verfügt über  rasches Verfallsdatum. Bei politischen Wahlen etwa besteht das Bekenntnis nur aus einem Kreuz. dessen Wirkung bei der nächsten Wahl erlischt.  Die standesamtliche oder die kirchliche Trauung kulminiert in dem Wort „Ja, ich will…!“ Doch für wie lange, weiß niemand.  

Und dann gibt es noch eine Fülle von Bekenntnissen, die man einstreut in lockeres Daherreden, oft mit Ironie versetzt: „Ich bekenne ganz offen: ich kann nur mit offenem Fenster schlafen.“ Oder man bekennt seine Vorliebe für bestimmte Fußballclubs, indem man in deren Bettwäsche schläft. Die meisten Sätze, die mit einem „Um mal ehrlich zu sein…“ oder einfach mit „Ehrlich…“ anfangen, kündigen ein „weiches“ Bekenntnis an, bei dem es um alles andere eher geht als um Tod oder Leben.  Man adelt, in dem man den Wert das Bekenntnis-Image nutzt, etwas sonst sehr Banales: „Ich bekenne mich als Liebhaber von Krawatten“.

Peter peccavi

Nicht selten ist ein Bekenntnis verbunden mit einem (persönlichen) Drama. Beispiele dafür findet man schon in frühen biblischen Texten. In 1. Samuel 15,24 legt der König Saul vor Samuel, der Politiker vor dem Priester ein Sündenbekenntnis ab: „Ich habe gesündigt, weil ich den Befehl des Herrn und deine Worte übertreten habe“. Saul bittet Samuel um Vergebung. Doch Samuel bescheidet den König lapidar: „Ich kehre nicht mit Dir um“. Damit ist Saul nicht mehr der König. Auf das Sündenbekenntnis und die von Gott erflehte Vergebung stößt man oft Psalmen (etwa Ps. 6 oder 32). Es geht für den Sünder um nicht weniger als das Weiterleben. Im Gleichnis von den verlorenen Söhnen bekennt der jüngere, als er hungrig und zerlumpt heimkehrt: „Vater, ich habe gesündigt gegen den Himmel und vor Dir“. Sein „Pater peccavi“ bewirkt die Vergebung des Alten: „Denn dieser mein Sohn war tot und ist wieder lebendig geworden“. Bekenntnisse können Leben retten.  

Dass man ein Bekenntnis glauben muss, sieht zunächst aus wie eine Achillesferse. Tatsächlich aber ist der fehlende Beweis die Pointe. Denn diese Lücke füllt der unbestreitbare und unbeweisbare Glaube. Und wem das Glauben Mühe macht, dem bleibt immer noch die Gesinnung, die Fakten allemal ersetzt. Und die Moral. Gerade durch die Moralisierung einer Sache oder die moralische Überlegenheit gegenüber einer Person wirkt ein Bekenntnis oft wie ein trotziger Gegenentwurf zu einer Welt, die von der Logik der Wissenschaft geprägt wird.

Der Ursprungsort für das harte, haltbare Bekennen sind die großen Religionen. Einzelne Menschen und sehr oft auch große Gruppen bringen ihre Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft dadurch zum Ausdruck, dass sie, meistens eingebettet in die jeweilige Liturgie, oft auch gegenüber Dritten, ihren Glauben bekennen: „Ich glaube an Gott, den Vater!“  oder ein Sündenbekenntnis („Confiteor“) ablegen Den Märtyrer erwartet für sein Bekenntnis der Tod.

Jeder erfahrene Politiker kennt Wert und Wirkung religiöser Bekenntnisse. Er profitiert davon, dass der religiöse Anstrich aus einem gewöhnlichen, manches Mal auch banalen Satz für den, der ihn fordert oder ausspricht, einen heiligen Grundsatz macht. So bekennen sich deutsche Politiker (heute) bei jeder Gelegenheit mindestens mit den Lippen zur sozialen Marktwirtschaft, zu den (nicht klar definierten) westlichen Werten. Und wenn sie besonders hochspringen wollen, zu den Menschenrechten. Auf die Vermischung von Politik und Religion stößt man nicht nur im Mittelalter, wenn etwa Papst Urban II auf der Synode von Clermont (im November 1095) die Kreuzzüge, religiös verbrämte Kriegshandlungen, mit einem „Gott will es!“ (Deus lo vult) heiligt. Aus der Reformation ging eine populäre politische Parole hervor: cuius regio, eius religio. Die Parteien der europäischen Glaubenskriege ziehen mit ihren jeweiligen religiösen Bekenntnissen auf den Lippen in einen Kampf um Leben und Tod. Ihre Nachfolger tragen im ersten Weltkrieg auf dem Koppelschloss die Worte Mit Gott.

Vor allem Diktaturen leben von Bekenntnissen zu Personen und Parolen. Bei einem Volksgenossen begann das tägliche Bekennen mit einem Heil Hitler.  Die Rede von Joseph Goebbels am 17. Februar 1943 im Berliner Sportpalast eine Rede gipfelte in der rhetorischen Frage „Wollt ihr den totalen Krieg.“ Die Antwort ist ein gebrülltes, wiederholtes Bekenntnis, das Ja-Wort für eine bedingungslose Unterwerfung. Und der deutsche Soldat zieht in den Kampf „wie in einen Gottesdienst“.

Eine besondere Art von Bekenntnis, das Geständnis (einer Tat) hat seinen Sitz im Leben im römischen Rechtswesen. Zu den Einsichten, die dem Redner vor Gericht helfen, und die bis heute ihren Wert behalten haben, gehört: „Nulla fortiter probatio quam confessio partis“.  Wer bekennt, überzeugt („propria confessio est optima convictio”. Ganz allgemein nutzt der antike Redner die Confessio, um Wohlwollen zu erregen („benevolum parare“). Speziell im Gerichtsprozess kann sich das Geständnis der Tat positiv auf das Urteil auswirken (ein „mildernder Umstand“). Zur Bekenntnisfamilie gehören auch Schwur und der Eid.

Krisenmodus als Wort des Jahres

Auch wenn das Bekenntnis zum Repertoire politischen Handelns, so begegnet man ihm derzeit auffällig oft. Sucht man nach Gründen, dann wird man ganz allgemein auf den aktuellen Zustand vieler Gesellschaften verwiesen, die mehr und mehr von alternativem Denken und Handeln bestimmt werden, in denen Positionen stärker werden, wie man im Parteienspektrum vor allem rechts außen findet. Dieser manichäische Ansatz gewinnt immer dann Anhänger, wenn die Probleme einer Gesellschaft schwer lesbar, wenn sie unübersehbar, aber auch unübersichtlich sind.

Eine Gesellschaft, deren Wort des Jahres „Krisenmodus“ ist, die das Wort „Unsicherheit“ bei jeder Gelegenheit in den Mund nimmt, ist bereits auf dem Weg in eine Bekenntnisgesellschaft, in der die Gläubigen die Diskurse beherrschen.

Ein zweiter Grund für den Bekenntnis-Boom ist der Einbruch von Putin in das ukrainische Haus: eine Zeitenwende. Die Gefühle, die dieser Krieg (zunächst und umfänglich, inzwischen nicht mehr mit der Eindeutigkeit der ersten Stunde) hervorgerufen hat, Empörung Entsetzen über den Aggressor, verlangten nach raschen Reaktionen. Langwierige oder gar langatmige Debatten verboten sich, wenn nichts ist mehr, wie es war. Auch das Tempo und die Routine, mit der Probleme gewöhnlich entschieden werden, können nicht mehr die alten sein. Es ist die Stunde des Bekennens. Es dient demjenigen, die eine rasche Entscheidung fordert, zum schnelleren und erfolgreichen Erreichen seiner Ziele. Es hilft denjenigen, die sich rasche Erfolge im Kampf gegen den Feind wünschen. Alles muss nicht nur gehen, es muss auch schnell gehen.

Das gilt auch für die Ursachenforschung des Krieges, die sich nicht bei komplizierten Konstellationen aufhalten möchte. Es ist nicht die Zeit des Aufarbeitens.   Da geht es, jenseits von historischen Analysen, viel schneller, wenn gefordert wird „Bekennen Sie endlich, dass Sie jahrelang die falsche Politik betrieben haben!“, auch wenn das Bekenntnis nur für eine Abrechnung derer steht, die bisher nicht gehört wurden oder nichts zu sagen hatten. Auch politische Kontakte mit menschlichen Schlagseiten erzwingen das Bekennen: „Bekennen Sie doch einfach, dass Ihre Freundschaft mit Putin ein Riesenfehler war!“ Zeitenwende bedeutet nicht mehr Zeit, sondern weniger. Für Zwischenschritte reicht die knappe Zeit einfach nicht aus. Denn eigentlich ist ja alles völlig klar. Man muss nicht lange drum herumreden.  „Bekennen Sie sich jetzt, ohne Zögern, ohne zu wackeln, zur Lieferung von Leopard-Panzern!“

Seit diesem Einbruch bekennt man sich – ganz in der Tradition von Heiligen Kriegen – allerorten und immerfort zu den westlichen Werten, die in Gefahr sind und (militärisch) geschützt werden müssen. Wann immer sich eine Gelegenheit bietet, bekennt man sich  zur unbedingten Hilfe gegen den Aggressor bis zum schließlichen Sieg, auch wenn es den vermutlich nicht geben wird, weil Kriege heute nicht mehr mit Siegen enden. Man muss nicht wissen, man muss glauben.  Jetzt, da man mit heißem Herzen dabei sein muss, darf die kalte Vernunft mal Pause machen. Jetzt gibt es kein Zagen oder Zögern. Das große Ganze hat nur noch zwei Teile.

An ihrer Grenze blühen die kleineren Bekenntnisse, die weicheren Varianten. Etwa, als Exempel für das, was man mit einem dunklen Wort  Fehlerkultur nennt, wohl um dem Fehler seine Schärfe zu nehmen, die Forderung nach einer öffentlichen Entschuldigung. Ungeweihte Priester verlangen etwa vom Bundeskanzler ein Sündenbekenntnis mit angeschlossener Reue und Entschuldigung. Eine Variante dieses Bekennens besteht darin, dass man sich als Folge eines „falschen“ Bekenntnisses öffentlich entschuldigen und das „richtige“ bekennen muss. muss. Eine Entschuldigungsbremse ist nicht in Sicht.

Ohne, dass man es verbatim ein Bekenntnis nennen würde, obwohl es genau das leisten soll, werden Brandmauern hoch- und rote Linien eingezogen. Politik gerinnt für den einen oder anderen in drei nicht diskutierbare und damit gewissermaßen indiskutable Worte, in das Bekenntnis eines Kompromissverweigerers: „Nicht mit mir!“ Für Botschaften, zu denen man nur noch ja oder nein sagen kann, reichen vierzig Zeichen. Jeder Buchstabe: ein Ausrufungszeichen! Biografien. Die politische Rhetorik klingt immer öfter so, als sprächen Staatsanwälte, die erst plädieren und dann recherchieren. „Er kann es nicht!“ 

Die Präsidentin der University of Pennsylvania, Liz Magill, ist nach der Kritik an ihrer Aussage bei einer Kongressanhörung zurückgetreten, bei der sie auf wiederholte Fragen hin nicht sagen konnte, dass Aufrufe zum Völkermord an den Juden auf dem Campus gegen die Verhaltensregeln der Universität verstoßen würden.
Die Präsidentin der University of Pennsylvania, Liz Magill, ist nach der Kritik an ihrer Aussage bei einer Kongressanhörung zurückgetreten, bei der sie auf wiederholte Fragen hin nicht sagen konnte, dass Aufrufe zum Völkermord an den Juden auf dem Campus gegen die Verhaltensregeln der Universität verstoßen würden.

© dpa/Mark Schiefelbein

Das Massaker der Hamas vom 7. Oktober 2023 hat zu einem weiteren weltweiten Ansteigen von Bekenntnissen geführt. Es gibt das Bekenntnis zu Israel und zum Antisemitismus. Präsidentinnen von US-Universitäten, übrigens nur Frauen, die sich nicht eindeutig erklärt haben, treten zurück. Preisverleihungen erzeugen einen Hammelsprung der Positionen. Wer sich – etwa um ein Bekenntnis zu Israel gebeten, und zwar ohne Wenn und Aber - wer sich dabei verspricht, der erinnert an die Geschichte von der Wahl zwischen Schibboleth und Sibboleth, die im Buch der Richter im 12. Kapitel erzählt wird. Wer das Codewort beim Überschreiten der Grenze falsch ausgesprochen hat, wurde getötet. Am Ende der Geschichte zählte man damals 40 000 tote Ephraemiter.

Manche Beobachter sprechen von einer „bekenntnisbesessenen Zeit“ (Sonja Zekri). Denis Yücel weist als Vorsitzender des Berliner PEN ausdrücklich jeden „Bekenntniszwang“ zurück.  

Was bedeutet, was bewirkt eine solche Überdüngung der politischen Landschaft mit Bekenntnissen und einer bekenntnisnahen Rhetorik?

Übermäßiger Gebrauch nutzt ab

Es ist, wie bei jeder Inflation: der Wert des Geldes – in diesem Fall des Bekennens – nimmt durch übermäßigen Gebrauch ab. Doch wichtiger ist zu sehen, was zunimmt. Was immer ein Bekenntnis sonst noch sein mag – es ist immer verbunden, explizit oder einfach nur tatsächlich - manchmal sogar aus sehr ehrenwerten Gründen – mit einem Mangel an Evidenz. Für ein religiöses Bekenntnis ist dieser „Mangel“ ein wesentlicher Teil seiner Bedeutung. Er bleibt folgenlos. Der Glaube ersetzt jede Evidenz. Das sehe ich erst, wenn ich es glaube (Pauls Auster). Für das politische Bekenntnis dagegen ist dieser Mangel ein Abfall vom „faktenbasierten“ Denken. Er ist fatal.  Also verdeckt man ihn entweder, indem man ihn ignoriert, oder die leere Stelle als einen Hinweis darauf deutet, dass es zwar auch auf fehlende Fakten, vor allem aber, dass es um den rechten Glauben im Sinne der richtigen Einstellung, der einzig möglichen Gesinnung geht.

Das politische Bekenntnis schafft genau wie das religiöse ein Drinnen und ein Draußen. Zwischenräume mit einer mittleren Raumtemperatur gibt es nicht (mehr). Kompromisse mit Blick auf gegensätzliche Fakten sind keine Lösung (mehr). Ähnlich wie in den meisten Umfragen zu politischen Themen oder Personen gibt es nur noch zwei (sprachliche) Möglichkeiten: ja oder nein. Und für die politisch eher Ahnungslosen noch die Sparte weiß nicht.

Häufiges Bekennen schafft eine Bekenntnis-Stimmung für die einfachen Lösungen. Lieber bekennen als räsonieren oder sich verschweigen. Mit der wachsenden Zahl an Bekenntnissen entsteht das Bild einer Wirklichkeit ohne Mittelwege. Es gibt nur rechts oder links, hell oder dunkel. Die Dämmerung ist abgeschafft. Nichts mehr ist fraglich. Im Gegenteil: Wer fragt, stört. Das Bekenntnis schottet sich ab gegen Einwände. Es verwandelt seine Achillesverse, den Mangel an Evidenz, in ein starkes Gefühl: nicht wissen zu müssen, sondern glauben zu dürfen. Irgendwann wird es das Bekenntnis des Jahres geben. 

Für Religionen ebenso wie für politische Gruppen - beide stehen im Wettbewerb mit ihresgleichen und beide gehen nicht selten eine Verbindung ein -  macht das Bekenntnis den Unterschied. Allerdings nicht der Typ der schnellen Festlegung. Fast immer ist es das Resultat langer Erörterungen, heftiger Kämpfe um jedes Wort.

Solche basalen Bekenntnisse wirken, als Dogmen, als Verfassungen, als Bindemittel einer Gesellschaft. Die Häufung banaler, kurzlebiger Bekenntnisse bewirkt das Gegenteil. Die Wucht, mit der die banalen Bekenntnisse inszeniert werden, kräftig unterstützt von Medien, die mit Schwarz-weiss-Erzählungen die Massen leichter unterhalten als mit komplizierten Gedankengängen, in denen man sich nur verlaufen kann, lenkt davon ab, dass ihnen der Zusammenhalt einer Gesellschaft völlig egal ist, dass es nur um die Absicherung bestimmter Interessen geht. Es ist ein Beispiel dafür, was passiert, wenn die Mittel den Zweck heiligen.

Die Reduzierung der Wirklichkeit auf Alternativen, auf ein like oder not like, entzieht dem gesellschaftlichen Leben Vielfalt und Fülle. Der produktive Effekt der kulturellen Differenz verliert seine Bedeutung, je mehr die Spaltung einer Gesellschaft in Bekennende und Bekenntnisverweigerer fortschreitet. Durch die Reduktion von Politik auf säkulare „Glaubensbekenntnisse“ verliert eine Gesellschaft an Rationalität. Das banale, kurzlebige Bekenntnis wird zum Spaltpilz einer Gesellschaft. 

Zu denen, die das Aufwachsen von Bekenntnissen auf dem politischen Feld von Berufs wegen problematisieren und dadurch vielleicht sogar mindern können, gehören nicht nur auch, sondern vor allem jene Journalistinnen und Journalisten, die Tag für Tag an der Vermittlung von Politik beteiligt sind, als Reporter, als Kommentatoren, als Moderatoren. Ihr Kerngeschäft besteht im Finden und Sortieren, im Auseinandernehmen und Zusammensetzen von Fakten, von Meinungen, von Entwicklungen, im Analysieren von unklaren Tendenzen und allzu klaren Trends - auf eine Weise, die es dem Publikum möglich macht, sich ein Urteil zu bilden.

Angesichts der vielen Bekenntnisse, auf die sie dabei stoßen, stoßen sie auch auf ein Dilemma. Die Politiker, die mit Bekenntnissen arbeiten, verhalten sich nämlich ganz ähnlich wie Journalisten. Sie sortieren, sie reduzieren, sie spitzen zu, wenn sie auf ein Bekenntnis setzen. Sie pfuschen den Journalisten gewissermaßen ins Handwerk, indem sie bereits erledigen, was eigentlich die Aufgabe eines unparteiischen Journalismus ist: aus der komplexen politischen Wirklichkeit eine übersichtliche, handliche, verständliche Lage zu „destillieren“.

Diese Funktionsraub kann nur dadurch kompensiert werden, dass es die Journalisten jetzt ihrerseits als ihre Aufgabe ansehen, hinter die Fassaden der Bekenntnisse zu schauen, sie aufzubrechen, nachzuprüfen, was sich in der Vereinfachung, in der Simplifizierung von politischen Positionen verbirgt. Und weshalb das geschieht. Und wer davon profitiert. Sie müssen erst das glatte Profil der Bekenntnisse aufbrechen und dann aus dem, was dabei zu Tage tritt, eine ihren Aufgaben gemäße Darstellung anbieten, in der nichts Konfessorisches mehr erscheint kein Rest an religiösen Schalen. Dafür aber Evidenz, Belege und Beweise. Und sie sollten bei dieser Arbeit nicht vergessen, den Effekt der Bekenntnisse, die Spaltung der Gesellschaft als einen Kollateralschaden zu benennen und zu belegen. 

Austauschbarkeit von Bock und Gärtner

Doch es gibt noch ein zweites Dilemma. Es besteht in der zunehmenden Austauschbarkeit von Bock und Gärtner. Denn auch unter Journalisten, zumal unter den Kommentatoren, stößt man immer häufiger auf einen (oft schwer erträglichen) Hang zum Bekenntnis. Journalisten, auch solche von Rang, sehen sich, sei es, um ihren Ärger über eine bestimmte Politik zu dämpfen oder sei es auch nur, um ihre Bedeutung zu steigern, um sich als kritisch zu erweisen, genötigt, selbst Politik machen. Zu diesem Zweck bedienen sie sich genau der Mittel, die eigentlich ein Gegenstand ihrer täglichen Recherchen und Analysen sein sollten: sie suchen das Bekenntnis. Sie vereinfachen, sie spalten ihr Publikum in Verehrer und Verächter. Sie fordern Klarheit, wo sie nur unter Missachtung der Wirklichkeit zu haben ist. Sie formulieren ihre eigenen Bekenntnisse und verbreiten sie anschließend, ausgestattet mit dem Privileg derer, die drucken oder senden dürfen. Und wenn sie dann noch in Talkshows auftreten, wo das kernige Bekenntnis zur Grundausstattung der Gäste gehört, agieren sie vollends auf Augenhöhe mit den Politikern, denen sie nun gegenübersitzen.

Auch wenn sich das Publikum dagegen kaum wehren kann - man sollte wenigstens annehmen, dass ein solches Verhalten seinerseits von Verlegern, Intendanten oder Chefredakteuren nicht schweigend gutgeheißen wird. Das aber bleibt in einer oft bis in die Haarspitzen politisierten Publizistik kaum mehr als ein frommer Wunsch. Oder man erliegt oder wird ein Opfer einer weit verbreiteten professionellen Resignation, mit der sich schon Goethe getröstet hat: verbiete Du dem Seidenwurm zu spinnen!

Das sich darin ankündigende dritte Dilemma besteht in einem schleichenden Kontrollverlust von Macht, genährt von einer verweigerten Verantwortung. Doch dessen Ursachen hier nachzugehen – das muss ich frei bekennen - wäre jetzt wirklich zu viel des Unguten.

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