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Chefdirigent Claudio Abbado interessierte sich sehr für den Inhalt der Programmheft des Orchesters.

© Peter Adamik/Berliner Philharmoniker

Konzertleben: Wer mehr weiß, hört auch mehr

Christiane Tewinkel fragt in ihrem Buch „Muss ich das Programmheft lesen?“ nach dem Sinn populärer Musikvermittlung im Konzertbetrieb

Hand aufs Herz: Wann haben Sie zuletzt ein Programmheft gelesen? Nicht hastig überflogen kurz vor Konzertbeginn oder heimlich geblättert in den langweiligen Momenten während der Aufführung, sondern wirklich eingehend studiert? So, dass etwas hängen bleibt, als nachhaltige Lektüre. In der Publikumsforschung gibt es keinerlei Untersuchungen zum Umgang der Konzertbesucher mit dem Programmheft, keine Zahlen über Lektüredauer oder Aufmerksamkeitsintensität. Die Macher sind auf ihr Bauchgefühl angewiesen, wenn es um die Frage geht, ob die Art, wie Informationen zu Kammermusik- oder Sinfonieabenden in Papierform angeboten werden, überhaupt den Wünschen und Bedürfnissen der Zuhörer entspricht. Oder ob der ganze Aufwand vielleicht gar vergebliche Liebesmüh ist.

Und doch gehört das Programmheft mit seinen detailreichen, auch mal ausufernden Werkanalysen fest zu den Ritualen des Klassikbetriebs. So wie das Stillsitzen im abgedunkelten Saal, wie das Getränkeverbot und die Applausordnung. Dabei sind diese wie andere Gepflogenheiten bei Live-Darbietungen von klassischer Musik noch gar nicht so alt. So wollten die Leute jahrhundertelang in Konzerten am liebsten nur Uraufführungen hören. Erst vor rund 130 Jahren bildete sich ein Kanon unsterblicher Meisterwerke heraus, den die Künstler seitdem immer wieder neu befragen.

Die frühen Programmhefte haben wenig Text und viele Notenbeispiele

1886 führten die Berliner Philharmoniker als erstes deutsches Orchester probeweise Programmhefte ein, „nach trefflichem englischen Vorbilde“. Zunächst waren die Erklärungstexte sehr kurz, dafür aber mit vielen Notenbeispielen versehen – weil häusliches Musizieren damals sehr verbreitet war und die Veranstalter davon ausgehen konnten, dass die Zuhörer die Partiturausschnitte problemlos nachvollziehen konnten. In ihrer nun als Buch erschienenen Habilitation an der Berliner UdK „Muss ich das Programmheft lesen?“ hat die Musikwissenschaftlerin und Tagesspiegel-Kritikerin Christiane Tewinkel das populäre Musikschrifttum seit 1945 untersucht, am Beispiel der Münchner sowie der Berliner Philharmoniker. Dabei zeigt sich, dass die Suche nach der idealen Form der Wissensvermittlung über Beethoven, Brahms und Co. direkt nach dem Zweiten Weltkrieg weiterging.

Zunächst waren die Erläuterungen in einem blumigen, metaphernreichen Stil verfasst, zudem betonen die Autoren den hohen Stellenwert der Musik für die geistige Erneuerung Deutschlands. In den siebziger Jahren setzt sich ein wissenschaftlicher Ton durch, mit dem Ziel, den Hörer zur Wahrnehmung der inneren Struktur des Tonsatzes zu ertüchtigen. Erst in den letzten 25 Jahren werden die Aufsätze wieder lesefreundlicher, entwickelt sich auch das Layout weiter, mit großflächig eingefügten Fotos und Infokästen für den schnellen Überblick. Zudem rücken die Ausführenden stärker ins Blickfeld: Nicht mehr nur der Dirigent oder der Solist werden abgebildet, sondern auch das Orchester. Darüber hinaus wird eine Liste sämtlicher Mitglieder der einzelnen Instrumentengruppen abgedruckt.

Musiker und Dramaturgen leben oft in Parellelwelten

Dennoch, so stellt Tewinkel fest, bewegen sich Praktiker und Programmheftmacher weitgehend in Parallelwelten. Was sich Intendant, Orchestervorstand und Chefdirigent bei der Planung gedacht haben, wird nicht in den Publikationen thematisiert. Ebenso wenig wie alle Fragen nach dem Kontext, in dem eine Aufführung stattfindet, begonnen bei den Variationsmöglichkeiten der Orchesteraufstellung bis hin zum Knigge für Konzert-Neulinge. Die Autoren behandeln die Werke fast immer als autonome Kunstwerke, herausgelöst aus dem Alltag.

Aus zwei Gründen können die Dramaturgen sich das erlauben: Zum einen müssen sie niemanden überzeugen – denn wer ein Programmheft erwirbt, hat sich ja bereits zuvor für den Abend entschieden. Und zum anderen haben sich gerade in jüngster Zeit die Musikvermittlungsanstrengungen der Orchester extrem diversifiziert. Auf Youtube-Kanälen und in der Digital Concert Hall liefern beispielsweise die Berliner Philharmoniker zu jeder Zeit Hintergrundinfos für Interessierte. Lunchkonzerte und Education-Aktivitäten machen zusätzlich neugierig, auch werden an jedem Abend Einführungsveranstaltungen angeboten. Und die Texte der Programmhefte werden vor den Konzerten ins Internet gestellt – zum kostenlosen Herunterladen.

So mancher hebt jedes Programmheft auf - ein Leben lang

Dennoch erwerben die Besucher weiterhin Programmhefte – und heben sie mitunter ihr Leben lang auf. Als Souvenirs, als Erinnerungsstücke, mittels derer sich das Erlebnis eines besonderen Abends zumindest behelfsweise bewahren lässt. Vielleicht auch als Statussymbole, fügt Christiane Tewinkel hinzu, als Zeichen ihrer Zugehörigkeit zum Bildungsbürgertum. So entstehen in vielen Abonnenten-Haushalten mit der Zeit wahre Wissensspeicher, Klassik-Enzyklopädien in hunderten Programm-Bändchen. Denn das Niveau der Essays ist hoch, gerade in den Publikationen der Berliner Philharmoniker, fachlich auf dem neuesten wissenschaftlichen Stand, sprachlich ansprechend dargeboten.

Für den musikalischen Genuss des Abends ist die Lektüre des Programmheftes nicht zwingend nötig – um auf Tewinkels provokante Ausgangsfrage zurückzukommen: Auch derjenige, der ganz ohne Vorkenntnisse den Saal betritt und sich einfach unvoreingenommen der Musik hingibt, kann beglückende Erlebnisse haben. Die Zeiten, als Theodor W. Adorno diesen sinnlichen Zugang wütend als falsche, weil unreflektierte Rezeptionshaltung bekämpfte, sind schon lange vorbei. 2016 darf jeder im Konzertsaal nach seiner Façon selig werden. Weiterhin allerdings gilt: Wer mehr weiß, hört auch mehr.

Christiane Tewinkel: Muss ich das Programmheft lesen? Bärenreiter 2016, 328 Seiten, 49,95 Euro.

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